• Ermacora, Beate — Das wahre Gesicht 2014

    Zu Walter Niedermayrs neuester Werkgruppe „Portraits“, die in dieser Ausgabe von Quart erstmals zu sehen ist – am Umschlag und quer durch das Heft verteilt.

    Von Beate Ermacora

     

    „Sie sind stumme Zeugen unserer Zeit. Sie stehen in der Landschaft als personifizierter Ausdruck unserer Konsumgesellschaft. Manchmal verändern sie ihr Gesicht, wenn der Wind sie berührt. Sie warten in der Landschaft, auf dass sie den Winter entweder verlängern oder überhaupt erst möglich machen. Dafür wird ihr Gesicht dann enthüllt, wenn es kalt genug ist, und sie dürfen ihr wahres Gesicht zeigen. Mit lautem Getöse speien sie aus ihrem runden Maul, in dem sich ein turbinenartiger Flügel dreht, einen Strahl von weißem Schnee in die manchmal noch schneelose Landschaft.“

    Walter Niedermayr

     

    Walter Niedermayrs neueste Werkgruppe trägt den Titel „Portraits“. Sie reiht sich ein in seine fotografische Untersuchung, Dokumentation und Interpretation der hochalpinen Landschaft, die er seit Ende der 1980er Jahre vornimmt. Seine groß angelegte Serie „Die Bleichen Berge“, für die er 1995 mit dem European Photography Award ausgezeichnet wurde, machte den Südtiroler Künstler international bekannt. Niedermayr nähert sich dem bislang in der zeitgenössischen Kunst eher verpönten Alpenbild auf völlig neue, kritisch beobachtende Weise. Dem seit der Romantik mit Sehnsüchten und Klischees behafteten Sujet der erhabenen Berge begegnet er, egal ob in den italienischen, österreichischen, Schweizer und französischen Alpen oder im amerikanischen Aspen, mit nüchterner, konzeptueller Distanz. In seinen Bildern verweist er stets subtil auf die zivilisatorische Erschließung und die allgegenwärtige Präsenz des Menschen selbst in den abgelegensten Winkeln der Bergwelt. Einer Bergwelt, deren Orte einander immer ähnlicher werden, wie er feststellt, „… was die Gleichförmigkeit und die Strukturierung durch Freizeitanlagen und touristische Infrastrukturen betrifft. Der alpine Raum ist eine Topografie, wo sich Gesellschaft exemplarisch in den verschiedensten Spielformen unserer Konsumwelt manifestiert.“ 1Walter Niedermayr, „Vom Gefüge der Räume. Ein Interview mit Walter Niedermayr von Andrea Domesle“, in: Walter Niedermayr. Raumfolgen 1991–2001, Eikon Sonderdruck # 7, Wien 2001, S. 4–6, hier: S. 4. Teil der alpinen Eventkultur mit ihren gebietsübergreifenden Schischaukeln, den geglätteten Abfahrten und den Versprechungen von Fun und Action in der Natur ist das Phänomen, dass die diversen Aktivitäten den Menschen zusehends von der Landschaft und dem Natur-erlebnis abzukoppeln scheinen.

    Walter Niedermayr arbeitet seit 2012 an der Serie eigenwilliger „Portraits“, mit der er Schneekanonen im gesamten Alpenraum ins Visier nimmt. Vergleicht man sie mit seinen vorangegangenen Fotozyklen, die sich mit der alpinen Landschaft auseinandersetzen, so stellt man fest, dass der Künstler seine fotografische Strategie hier signifikant geändert hat. Die meist mehrteilig angelegten Panoramen von Gletschern, Felswänden und steilen Abhängen, in denen man erst bei genauerem Hinsehen Wege, Hütten, Schilifte und Menschen entdeckt, waren aus einer bestimmten Entfenung fotografiert. Personen, die Gletscher besichtigen oder ihrem touristischen Freizeitvergnügen in Form von Schifahren oder Snowboarden nachgehen, wirken in den landschaftlichen Weiten wie Ameisen. Sie erscheinen in den Aufnahmen, deren räumliche Ausdehnung und Tiefe durch nachträgliche Unterbelichtung ins Flächige und damit Grundlose transponiert werden, wie grafische, ornamentale Elemente. Alle Bilddetails sind gleichwertig behandelt, nichts sticht dominierend heraus.

    Mit seinen neuen Motiven jedoch geht Niedermayr nun gleichsam auf Tuchfühlung, um die zunehmende Diskrepanz zwischen Mensch und Natur noch deutlicher herauszuarbeiten. Er fotografiert sie aus nächster Nähe, rückt sie in den Vordergrund und in die Mitte des Bildausschnitts. Auch wendet er nicht mehr die für ihn bislang typische Methode an, die Fotoarbeiten als Polyptychen anzulegen, die es ihm erlaubte, durch Überlappungen, Verdoppelungen und Brüche minimale zeitliche und bildräumliche Verschiebungen zu erzielen, um die Gleichsetzung von Bild und Wirklichkeit zu unterlaufen. Die Farben sind wie in allen Arbeiten Niedermayrs durch nachträgliche Bearbeitung blass und wenig kontrastreich. Jedes einzelne Foto steht für sich, obwohl es Teil einer breit angelegten Untersuchungsreihe ist, in der es sich in Gesellschaft weiterer Portraits wiederfindet. Außerdem wird die oftmals eingenommene Perspektive aus einer monumentalisierenden Untersicht zu einer inhaltlich aufgeladenen Bedeutungsperspektive. Damit trägt Niedermayr einer rasanten Entwicklung der alpinen Tourismusindustrie Rechnung, in der der Bau von Beschneiungsanlagen boomt, um angesichts des Klimawandels und der stetig steigenden Ansprüche der Urlauber Schneesicherheit zu gewährleisten. Wurde anfangs nur zur Pistenkorrektur beschneit, so kommt der Kunstschnee nun in allen Alpenländern flächendeckend auch in hohen Lagen zum Einsatz. Die Schneekanonen fotografiert der Künstler allerdings nicht im Winter, sondern im Sommer. Fallen sie in Winterlandschaften nicht so sehr ins Auge, weil sie bereits irgendwie zum modernen Schizirkus dazugehören, so stellen sie im Sommer, wenn sie plötzlich völlig losgelöst von ihrer Funktion in der Landschaft stehen, absolute Fremdkörper dar. Wie uns die Fotos zeigen, hat sich ihr Äußeres auch gravierend verändert, denn die Schneekanonen sind nun liebevoll umhüllt und bekleidet. Bergsteiger, die nicht mit den neuesten Entwicklungen im Wintersport vertraut sind, mögen sich wundern, was es mit diesen Gebilden auf sich hat. Die technoiden, metallischen, geometrischen Formen, die ohne Schnörkel, zweckgebunden und fernab jeder Ästhetik entworfen wurden, verschwinden unter bunten Ummantelungen und tuchartigen, Falten werfenden Überwürfen aus Kunststoff. Vermutlich geschieht dies, um die teuren Maschinen vor Witterungseinflüssen oder der Beschmutzung und Beschädigung durch Tiere und Menschen zu schützen. Gerade dieses absurde Moment der optischen Verwandlung von Technischem in Organisches hat den Künstler dazu inspiriert, die merkwürdigen Gerätschaften als Figuren zu sehen und sie zu personifizieren.

    Wenn Walter Niedermayr davon spricht, dass es ihm ein Anliegen ist, mit dieser Werkgruppe so etwas wie eine Gesellschaft zu portraitieren, die von Schigebiet zu Schigebiet leichte Unterschiede aufweist, jedoch unübersehbar immer größeres Terrain erobert, so hat er humorvoll, ironisch und trotzdem mit äußerstem Ernst eine treffende Metapher gefunden, um über gesellschaftliche Entwicklungen und Auswüchse nachzudenken. Es gelingt ihm, dies fotografisch so zu formulieren, dass der Betrachter atmosphärisch mitgerissen wird. Ein bisschen ist man an den vierten Teil von Felix Mitterers „Piefke-Saga“ erinnert, der 1993 eine Zukunftsvision präsentierte, die der heutigen Wirklichkeit schon bedrohlich nahe gekommen zu sein scheint. Niedermayrs Intention lässt sich jedoch vor allem mit jener von August Sander, einem der bedeutendsten Wegbereiter der dokumentarischen und sachlich-konzeptuellen Fotografie vergleichen. 1924 entstand dessen aus 45 Mappen und hunderten von Fotografien bestehendes Werk „Menschen des 20. Jahrhunderts“, in dem er anhand von Portraits von Menschen unterschiedlicher Berufsgruppen und Gesellschaftsschichten eine Typologie erstellte. Mit dieser vergleichenden Art der Fotografie, die auf unmittelbarer Beobachtung beruhte, schuf er sowohl ein Abbild als auch ein facettenreiches Panorama der Gesellschaft seiner Zeit. Walter Benjamin attestierte seinem methodisch angelegten Portraitwerk eine aufklärerische Wirkung. Walter Niedermayr verfolgt, vergleichbar mit Sander, eine vorurteilsfreie und wirklichkeitsnahe Darstellung. Dabei kommt es zu einer interessanten Situation, die unvermutet zwischen Dokumentation und Erzählung angesiedelt zu sein scheint. Denn so wie er die bekleideten Schneekanonen ins Bild setzt und inszeniert, sei es in der Wiese vor einer Baumkulisse, in Geröllhalden oder auf Geländekuppen, bekommt man den Eindruck, als hätte man es tatsächlich mit Wesen zu tun. Allerdings mit Wesen, die vermummt sind oder in einer Rüstung stecken. Mitunter meint man, dass sie den Betrachter aus Augenschlitzen beobachten. Durch die Art, wie Niedermayr sie portraitiert, scheint es, als würde man einer Gesellschaft von Wächtern oder archaischen Rittern begegnen. Sie wirken wehrhaft, als wären sie die Hüter und Verteidiger des sie umgebenden Gebiets. Diese maskierten Gestalten, die die Landschaft wie mythische Sagenfiguren besetzen und ihr wahres Gesicht nicht preisgeben, verkörpern eine Gesellschaft von Stellvertretern. Sie stehen, und als solche hat Walter Niedermayr sie genauer unter die Lupe genommen, für Menschen, ihre Macht- und Interessenverbände, die vor allem den Profit vor Augen haben, mit der Erhaltung von Arbeitsplätzen argumentieren und entgegen aller Mahnungen und Einsprüche von Ökologen und Umweltschützern weiter immens viel Geld in Lifte, Pisten oder Hotels stecken, um Tourismusgebiete attraktiver zu machen. Niedermayrs Schneekanonenportraits erweisen sich als überaus effektive Denkbilder. Denn bei allem Amüsement, das sie doch auch hervorrufen, ziehen sie einen Rattenschwanz an Fragen nach sich. Man beginnt zu überlegen, wie die Beschneiungsgeräte zu ihrem Strom kommen oder wo sich die Wasserspeicherseen befinden, ohne die die Anlagen nicht funktionieren würden. Man erinnert sich, schon einmal gehört zu haben, dass der Einsatz von Kunstschnee einen enormen Verbrauch an Wasser und Energie verursacht oder dass die empfindliche Vegetation vor allem in hochalpinen Lagen unwiederbringlich zerstört wird.

    Auch wenn sich Walter Niedermayr intensiv und seit langen Jahren damit auseinandersetzt, wie durch menschliche Eingriffe in die Natur ursprüngliche Landschaften überformt werden und völlig neue künstliche Landschaften entstehen, so ist seine Haltung neutral. Seine Arbeiten sind auf gesellschaftliche Prozesse bezogen und verweisen auf soziale und politische Gegebenheiten. Er arbeitet den seit der Aufklärung schwelenden philosophischen Disput um die Wertigkeiten von Natur und Kultur immer wieder heraus und legt nahe, die menschliche Einflussnahme auf die Natur neu zu bedenken. In Anlehnung an August Sander könnte man daher seine „Portraits“ durchaus treffend als „Menschen des 21. Jahrhunderts“ bezeichnen.

     

    Veröffentlicht in: Quart — Heft für Kultur Tirol Nr. 23/14, 2014