Hapkemeyer, Andreas — Walter Niedermayr: Der subjektive Blick 2013
Ein Gespräch mit Andreas Hapkemeyer
Andreas Hapkemeyer: Mitte der 1980er Jahre gehst du vom Einzelbild, das in der Fotografie bis heute eindeutig die dominante Form darstellt, über zum mehrteiligen Bild. Die Mehrteiligkeit bleibt bei allen Veränderungen, zu denen es im Lauf der Jahre in deinem Werk kommt, die wesentliche Konstante. Natürlich gibt es auch andere Fotokünstler, die fast ausschließlich mehrteilig arbeiten wie etwa Bernd und Hilla Becher oder Gilbert & George, um zwei sehr bekannte Beispiele zu zitieren. Wo liegt der entscheidende Unterschied?
Walter Niedermayr: 1987 habe ich meine erste mehrteilige Arbeit realisiert. Ich wollte vom Einzelbild weg, weil die Mehrteiligkeit mir in der Auseinandersetzung über die Funktionsweise von Bildern mehr Handlungsspielraum bietet. Mir ging es aber vor allem um die Frage nach der Bedeutung von Bildern. Das Einzelbild entspricht eigentlich nicht dem Prozess des Sehens, den wir ständig praktizieren; das Sehen besteht aus permanenten Perspektivwechseln und entsprechendem Neufokussieren. Ein wesentlicher Unterschied meiner Arbeiten zu denjenigen der Bechers besteht darin, dass die Bechers Typologien von Objekten fotografieren und ich mit einer Topographie oder einem einzelnen Objekt arbeite, das ich aus verschiedenen Perspektiven betrachte. Das ist eine andere Arbeitsweise. Die Typologien der Bechers haben einen dokumentarischen Charakter. Für mich ist Fotografie mehr als Dokumentation, eine von einem Subjekt ausgehende Sicht, also definitiv subjektive Sicht.
AH: Eine traditionelle Konzeption besagt, dass nichts so getreu die Wirklichkeit abbildet wie die Fotografie. Für die Bechers geht es entschieden um eine solche Abbildung von Realität. Du stehst auf einer anderen Position. Du hast starke Zweifel an der Möglichkeit bzw. der Sinnhaftigkeit fotografischer Wirklichkeitsabbildung und bemühst dich immer, die Distanz zwischen Wirklichkeit und Foto sichtbar zu machen. Man wird vielleicht aufs Glatteis geführt, wenn man die Landschaften kennt, mit denen Du arbeitest. Der Wiedererkennungseffekt droht, den Abbildungsaspekt in den Vordergrund zu rücken und damit von deinen künstlerischen Intentionen abzulenken.
WN: Das Einzelbild leistet tatsächlich irgendwie diese fragwürdige Abbildung von Realität. Das Resultat meiner aus Teilen zusammengesetzten Bilder ist eine Konstruktion, bei der etwa durch Überlappung oder Verdoppelung eine Raumerweiterung entsteht und damit neue räumliche Aspekte sichtbar werden. Es entstehen Verbindungen zwischen den einzelnen Teilen, die nicht mit der Realität übereinstimmen. Es geht mir hier um die Frage, wie Bilder grundsätzlich funktionieren: Wir haben es bei der Fotografie ja mit einer Transposition der Wirklichkeit von der dritten in die zweite Dimension zu tun. Wie sehen wir Bilder? Wie wirklichkeitsgetreu sind sie eigentlich?
AH: Ein wesentliches Merkmal deiner Bilder ist die systematische Unterbelichtung. In meinen Augen bewirkt dies eine Form der Entrealisierung. Figuren auf den Bergbildern scheinen manchmal auf einer weißen Fläche zu schweben. Man sieht nicht mehr den Grund, auf dem sie stehen. Ist Verfremdung der Realität eine deiner Intentionen?
WN: Man könnte diesen Effekt in Verbindung bringen mit der Orientierungslosigkeit angesichts einer Landschaft, die zu einer Art Sportgerät mutiert ist. Die Menschen nehmen den sie umgebenden Raum gar nicht mehr wahr, da sie mit ihren sportlichen Aktivitäten viel zu sehr beschäftigt sind. Mich interessiert, wie wir den Raum erfahren. Wir erfahren ihn mit allen Sinnen; es gibt den Raum nur als menschliche Erfahrung.
AH: Für dich stellt also die Mehrteiligkeit mit ihren Verschiebungen der Perspektive, Überlappungen, partiellen Wiederholungen usw. die formale Entsprechung zu einem physischen Erfassen des Raumes dar?
WN: Ja, was in meinen Werken passiert, ist eine Erkundung von Raumerfahrung über das fotografische Bild. Wenn ich mich für eine meiner Arbeiten im alpinen Raum bewege, handelt es sich um einen Vorgang, bei dem ich den Blick auf ein Objekt erkunde um dann verschiedene Standpunkte einzunehmen. Es handelt sich um ein Ergehen des Raums: Raum kann man gehend am besten erfahren.
AH: Du ergehst bzw. erwanderst dir eine Landschaft, eine Stadt, ein Gebäude, und dabei entscheidest du, wo du Bilder machen wirst.
WN: Zunächst hole ich mir Informationen zu dem Projekt ein, an dem ich arbeiten will. Ich recherchiere dazu längere Zeit und stelle mir eine Dokumentation zusammen. Ich arbeite dabei auch mit topografischen Karten. Das Arbeiten vor Ort ist erst der zweite Schritt. Ich bin meistens nicht nur einmal, sondern mehrmals an einem Ort, mit dem ich arbeite. Ein Raum sieht zu verschiedenen Zeitpunkten anders aus. Das Erarbeiten eines Ortes ist ein längerer Prozess, nicht ein kurzes Hingehen wie etwa bei einem Reporter, der ein Bild macht und dann wieder geht.
AH: Man muss sich also vorstellen, dass die verschiedenen Perspektiven auf deinen Bildern einen Niederschlag der verschiedenen Positionen darstellen, die du im Lauf eines fotografischen Prozesses einnimmst?
WN: Die Elemente eines mehrteiligen Werkes sind Einzelbilder und sind als solche das, was man als eine „Form von Wirklichkeit“ bezeichnen könnte. Aber ein Bild ist ein Bild und nicht Realität. Die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Bild ist für mich von zentraler Bedeutung. Ich erarbeite mir eine Anzahl von Perspektiven, mit denen ich dann ein serielles Werk konstruiere. Das Resultat ist ein fiktives Bild, eine Erweiterung des Raums.
AH: Entstehen etwa bei einem zwölfteiligen Werk alle Teile gleichzeitig oder können da auch einzelne Teile zu einem späteren Zeitpunkt dazu kommen oder auch ältere Bilder verwendet werden?
WN: Es kann durchaus sein, dass ich Arbeiten durch Bilder, die zu einem anderen Zeitpunkt entstanden sind, ergänze. Meistens entstehen die Bilder allerdings schon im Rahmen eines Projekts. Ich mache eine größere Anzahl von Aufnahmen, aus denen ich auswähle. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob man an einem Einzelbild arbeitet oder an einem Bildblock, wie ich es tue. Ich muss darauf achten, dass ich Relationen herstelle, wozu ähnliche Höhen und bestimmte Abstände nötig sind. Ich achte hingegen weniger darauf, ob ich ein faszinierendes Einzelbild mache. Meine Arbeitsweise relativiert eher den Aspekt von Komposition, der Einzelbilder oft charakterisiert. Bei mir tritt an die Stelle der Komposition die Zusammenstellung von Bildern zu einem mehrteiligen Werk.
AH: Du sprichst bei deinen Bildern von Konstruktion, weil du mit Elementen arbeitest, die du zusammenstellst. Was unterscheidet die Zusammenstellung mehrerer Teile zu einem großen Werk von der Komposition, die in einem Einzelwerk stattfindet?
WN: Im Gegensatz zum Einzelbild relativiert sich bei einem mehrteiligen Werk die Möglichkeit der Komposition. Je mehr Elemente ich zusammensetze, desto mehr wird das Werk zu einer Konstruktion. Es entstehen Beziehungen zwischen den Bildkomponenten. Im Gegensatz zur Konstruktion, wie ich sie mache, verstehe ich unter Komposition etwa die Bildeinteilung, eine mehr ästhetische und etwa dem goldenen Schnitt folgende Form des Sichtbarmachens. Es gibt ja bestimmte kompositorische Regeln. Diesen Regeln folge ich in meinen mehrteiligen Arbeiten nicht. Bild und Raum: das sind – wie gesagt – die beiden Fragen, mit denen ich mich permanent auseinandersetze.
AH: Die Serien der alpinen Bildgruppen, die seit Mitte der 1980er Jahre entstehen, sind vielleicht deine bekannteste. Ab 1991 kommen die Raumfolgen, die eine Fortsetzung in den Rohbauten finden, die du ab 1997 machst. 1992 setzt die Serie der Artefakte ein, also vom Menschen geschaffene Gebilde: Straßen, Brücken, Gebäude. 2005 machst du die Serie der Iran-Bilder. Ab 2011 entstehen die Bildräume. Welche Rolle spielt für dich das Thematische? Macht es für dich einen Unterschied, ob du Städte aus dem Orient, mitteleuropäische Berge, Krankenhäuser, Gefängnisse oder Bilder aus Laboren zeigst?
WN: Das Iran-Projekt stellt eine Ausnahme in meinem Werk dar. Bei den anderen Arbeiten ist die Grundthematik der Raum: Landschaft, Formen der Aus- und Eingrenzung, die in diesen Räumen erfolgen, die Leitsysteme, die in diesen Räumen wirksam sind. Leitsysteme zeigen mir, wo ich mich bewegen soll und wo nicht, wenn ich nicht in eine Gefahrenzone geraten will. Das sieht man sehr gut am Berg mit seinen Hinweisschildern und Zeichen, aber auch in Gefängnissen, Krankenhäusern und ähnlichen Institutionen. Die Iran-Bilder sind 2005/06 und 2008 entstanden. Über Wien war ich eingeladen worden, an einem Kulturaustausch-Programm teilzunehmen. Mich haben die vorderasiatischen Länder immer schon interessiert. Daher habe ich sofort zugesagt. Als Leitidee für das Iran-Projekt habe ich den architektonischen Raum genommen. Ich wollte den Gegensatz zwischen der Architektur aus der Zeit vor der islamischen Revolution und der Architektur, die danach entstanden ist, untersuchen.
AH: Noch einmal zur Frage des Thematischen in deinem Werk: Ein Werk wie die zwanzigteilige Serie, die du im ehemaligen KZ Sachsenhausen gemacht hast, ist unglaublich stark konnotiert. Wie kann man sich da als Künstler bewegen, ohne anzuecken? Wie begegnet man der Gefahr, das Schreckliche zu ästhetisieren, was einem Künstler leicht als unangemessene Haltung ausgelegt werden kann.
WN: Grundsätzlich entstehen meine Arbeiten so, dass ich eine gewisse Distanz aufbaue, eine sozusagen neutrale Position beziehe, ohne zu urteilen. Aus dieser Warte stelle ich Bilder zur Disposition. Wenn mich ein Thema oder eine Geschichte interessiert, setze ich mich damit auseinander und eigne mir entsprechendes Wissen an. Es gibt keine Projekte, für die ich mich nicht relativ intensiv vorbereitet hätte. Ich kann nicht sinnvoll arbeiten, wenn ich zu wenig weiß. Das Projekt in Sachsenhausen habe ich zusammen mit einem Architekten aus Stuttgart durchgeführt, der eine Überdachung für die Verbrennungsöfen realisiert hat. Der Plan war, dass ich mich mit dem Gebäude zu beschäftigen. Ich war aber in meinen künstlerischen Entscheidungen frei. So habe ich mich auch mit dem Gelände beschäftigt, mit und den Spuren, die noch im Raum sichtbar waren.
AH: Du hast die Neutralität angesprochen, die du in deinen Werken zu wahren versuchst, die Distanz, die du brauchst, um gut arbeiten zu können. Ich habe beim Ansehen deiner Werke aus dem alpinen Raum, aber auch bei den Werken, die etwa in Aspen entstanden sind, den Eindruck, dass sie gesellschaftskritisch intendiert sind. Stellst du in ihnen nicht das massive Eindringen des Menschen in die Natur, die Transformation der Landschaft zu einer Art Sportinstrument, die Auswirkung räumlicher Leitsysteme auf äußerst kritische Weise dar? Nimmst du da nicht dezidiert die Position eines Kritikers an der industriellen Nutzung von Natur ein?
AH: Ich habe es bei meinen Arbeiten meist mit Kulturlandschaft zu tun. Naturlandschaft, also die völlig unberührte Landschaft, gibt es nicht mehr, das kann man globaler Perspektive behaupten. Der Mensch war ja schon überall. Mich interessieren Landschaften, mit welchen der Mensch interagiert, in denen er sich bewegt und etwas macht. Im alpinen Raum sind das die Orte, an denen Ski gefahren wird, an denen Seilbahnen in die Höhe fahren, an denen andere touristische Infrastrukturen entstehen. Ich suche in meinen Arbeiten Mehrdeutigkeit. Es geht mir einmal um das Bild und das, was im Bild sichtbar wird. Dann geht es mir um Formales: um die scheinbar getreue Abbildung, die uns dazu verführt, sie als Wirklichkeit zu lesen, und die sich bei genauerem Hinsehen als eine Fiktion bzw. Konstruktion erweist. Der erste Anschein hat die Funktion, die Aufmerksamkeit des Betrachters zu fangen; beim zweiten Hinsehen erfährt man eine Ernüchterung durch die Wirksamkeit der Brüche zwischen den Bildern, die den Realitätsanspruch unterminieren. Ich vermeide Arbeiten, die mit dem Finger zeigen. Meine Arbeiten sollen über die ihnen eigene Distanziertheit funktionieren. Es geht nicht um den Blick auf Details, sondern um den Blick auf eine Gesamtsituation. Diese sieht eben so aus, dass wir Landschaft benützen. Die Arbeiten enthalten meine Vorstellungen von dem, was ich machen möchte. Mein Werk ist aber in verschiedene Richtungen lesbar, es gibt in ihnen mehrere Ebenen. In Österreich, Deutschland und der Schweiz werden meine Arbeiten oft vom ökologischen Standpunkt aus angesehen, in Schweden und Norwegen wesentlich weniger. Meine Ausgangsfrage ist immer: Was bedeuten Bilder? Wie funktionieren Bilder? Es ist für mich wichtig zu klären, welche Inhalte ich vermitteln will und dass es verschiedene Zugänge gibt.
AH: Gibt es die Gefahr eines Qualitätsverlusts, wenn man zu explizit oder eindeutig wird?
WN: Ich glaube Lacan hat einmal gesagt: Wenn wir mit den Fingern auf die Sünden unserer Väter weisen, werden wir wenig erreichen, wir müssen subtiler vorgehen. Ich glaube, das stimmt. Wenn wir jemanden brüskieren, führt das eher zu Opposition als zu einem Prozess der Veränderung.
AH: Engagierte Kunst riskiert, dass sie vor lauter guten Intentionen die Ästhetik aus den Augen verliert. Das Werk ist gut gemeint, aber als gestaltetes Objekt unterkomplex. Wenn ich recht verstehe, suchst du nach einem Gleichgewicht aller Komponenten, wodurch ein vieldeutiges Objekt entsteht.
WN: Ja, das wäre mein Anliegen.
AH: Ich sehe in deinen Landschaften trotz aller technischen Strukturen, die sich in ihnen finden, trotz allem Naturfremden und Naturfernen immer noch Reste dessen, was man Ende des 18. Jahrhunderts als das Sublime oder Erhabene bezeichnet hat.
WN: Ich hab mit dieser Sichtweise ein Problem. Denn ich glaube, dass dort, wo Menschen in Massen auftreten, das Sublime schwerlich wahrgenommen werden kann. Für mich ist das Erhabene eine Situation, in der ich Stille oder Leere finde. Man findet es also nur an Orten, an denen wir keine totale Besetzung des Raums haben. Ich kann das Erhabene in einer Landschaft, die teilweise belebt ist wie die Fußgängerzone einer größeren Stadt, nicht mehr sehen. Wenn ich an diesen Orten arbeite, die ich in meinen Gebirgsbildern zeige, finde ich kaum Stille. Es ist teilweise richtig laut dort.
AH: Du arbeitest immer mit Farbfotografien. Welche Rolle spielt die Farbe in deinem Werk?
WN: Bilder sind zweidimensional. Die Fotografie ist eine Projektion von Dreidimensionalität in die zweite Dimension. Ein wichtiger Aspekt meines Umgangs mit dem Raum ist die Farbgebung: durch die Reduktion farblicher Dichte wird das Bild relativ flach. Die Personen und alle Dinge, die sie umgeben, wirken dann wie aus einem Baukastensystem. Die Menschen sehen ausgesetzt aus, was ein Effekt meiner Arbeitsweise ist. Ich habe kein Problem damit, in der Fotografie die Farbe zu verändern. Das Medium ist für mich ein Mittel zum Zweck. Es gibt für mich kein Gesetz, das besagt, ich müsste in der Fotografie so oder so vorgehen. Es gibt höchstens aus der Industrie kommende Vorgaben, die besagen, dass Farbe eben so oder so auszusehen hat, weil sie sich dann am besten verkaufen lässt.
AH: Intensivierst du in deinen Bildern auch manchmal die Farbe?
WN: Nein. Früher bei der analogen Ausarbeitung konnte ich gar keine Farbe hinzufügen. Man kann höchstens die Farben abgleichen und leicht verändern. Seit einigen Jahren arbeite ich digital. Es geht aber nicht um analog oder digital, sondern um die Authentizität, die ein Autor hat, wie weit er mit dem, was er macht, glaubhaft ist. Er benützt sein Medium, um die Dinge, um die es ihm geht, so gut wie möglich sichtbar werden zu lassen.
AH: Du sagst immer wieder, dass für dich die Wahrnehmung von Raumatmosphären wichtig ist.
WN: Raumwahrnehmung ist eine sehr körperliche Sache. Wir nehmen Raum mit allen Sinnen wahr. Wir erfahren Räume mit den Stimmungen, die diese in uns auslösen. Das Spannendste für mich ist, einen Raum zu erleben, bevor ich ihn fotografiere. Erst dann setze ich ihn in ein Bild um. Dabei kann im Bild eine ganz andere Atmosphäre entstehen. Bilder produzieren ihre eigenen Atmosphären, die auch stark mit dem Raum zusammen hängen, in welchem sie gezeigt werden. Der Raum-Bild-Kontext schafft eine eigene, u.U. eine andere Atmosphäre als diejenige, die man in der fotografierten Landschaft erlebt hat.
AH: Dein Werk hat mit Erkenntnis zu tun, mit ästhetisch sich manifestierenden Fragen nach der Wirklichkeit der Bilder, aber auch mit dem Bemühen um Wahrhaftigkeit. Gleichzeitig wissen wir alle, dass heute weite Striche der Kunst von wirtschaftlichen Interessen bestimmt sind, also einer ganz anderen Logik folgen. Wir sind als Künstler, Kuratoren, Kritiker, Galeristen Teil eines Systems, aus dem wir nicht einfach austreten können. Wie gehst du damit um? Wie kann man gleichzeitig die Dimension der Erkenntnis bewahren und in einem von der Logik des Marktes stark mitbestimmten System mitspielen?
WN: Das ist nicht einfach. Ich versuche mich vom System nicht vereinnahmen zu lassen und mir eine gewisse Distanz zu wahren. Wenn ich die Kunstwelt von außen betrachte, dann finde ich manches sehr problematisch. Ich möchte hier auch eine Institution wie das Museion nicht ausschließen. Ich denke, dass die Gefahr der Interessenkollision besteht, wenn Sammler in einem Stiftungsrat sitzen.
AH: Wo liegen für einen Künstler die Fußangeln? Etwa darin, dass der Markt einen Künstler zu einer Art Kunst drängt, die sich besser verkauft? In deinem Fall könnte es zum Beispiel heißen: Bleib bei deinen alpinen Bildern, mit denen bist du am erfolgreichsten, sie charakterisieren dich. Wenn du von ihnen weggehst, schwächst du deine Position als Künstler und unsere Position als Galeristen. Oder man muss große Mengen von Werken produzieren, wenn man mit großen Galerien zusammenarbeitet, möglicherweise mehr, als man seriös herzustellen im Stande ist. Kannst du sagen, wo für dich die konkreten Bedrohungen oder Versuchungen liegen?
WN: Das, was du ansprichst, gibt es natürlich. Man kann relativ schnell verbrannt werden. Der Kunstmarkt funktioniert teilweise wie ein Durchlauferhitzer. Als Künstler suche ich unter den Leuten, die mir begegnen, nach solchen, die glaubwürdig sind, nach Leuten, denen man vertrauen kann. Das ist nicht immer einfach. Ich schaue mit Leuten zusammenzuarbeiten, von denen ich glaube, dass die Gratwanderung zwischen den wirtschaftlichen Aspekten und den künstlerischen Ansprüchen zu schaffen ist. Man muss vorsichtig sein, wohin man sich begibt, man tut gut daran sich im Vorfeld gut zu informieren und manchmal trennt man sich von Galerien auch wieder. Man lernt da viel im Lauf der Jahre. Ich sehe das ganze Kunstsystem sehr kritisch. Sehr wichtig sind da die Fragen: Was gibt’s Neues? Was lässt sich vermarkten?
AH: Für den Markt muss neue Ware herangeschafft werden.
WN: Ja. Aber daran sind auch teilweise die Künstler selbst schuld, wenn sie sich dem System ausliefern. Ich versuche mir eine bestimmte Autonomie zu erarbeiten. Es hat keinen Sinn, dem System nachzulaufen und zu erwarten, dass vom System etwas kommt. Letztlich kannst du nur an dir selbst arbeiten. An dem, was du für wichtig hältst und nur solchen Leuten deine Arbeit zu zeigen, die sie auch verstehen können.
AH: Ich empfinde das als eine sehr klare Darstellung der Situation des heutigen Künstlers. Es ist ein ständiger Lauf auf Messers Schneide: einerseits musst du dir selbst treu bleiben, gleichzeitig ist das Mitspielen die Voraussetzung dafür, dass du deine Werke überhaupt erst zeigen – und auch von ihnen leben – kannst.
WN: Es ist auch ein Kampf mit dir selbst, da einem ja immer wieder Zweifel kommen. Ich denke, dass es aber nicht anders sein kann. Die Versuchungen im Kunstkontext sind einfach sehr groß. Es gibt immer Leute, die irgendetwas von einem wollen.
AH: Du unterrichtest seit 2011 künstlerische Fotografie an der Design-Fakultät der Freien Universität Bozen. Was kann ein Künstler seinen Studenten weitergeben? Wäre es denkbar, dass da eine Walter-Niedermayr-Schule entsteht?
WN: Ich habe zu lehren angefangen, da mich junge Leute interessieren. Beim Dialog mit ihnen kann sowohl auf ihrer als auch auf meiner Seite etwas passieren. Wir können uns gegenseitig bereichern. Ich bin neugierig, was junge Leute denken und machen. Und ich hoffe, ihnen etwas zu bieten, was sie als sinnvoll empfinden. Für mich ist das Unterrichten ein Arbeiten im Dialog; mich interessiert die Universität nicht mehr, wo sie zu einem Dienstleistungsbetrieb wird. Das möchte ich nicht unterstützen oder mittragen. Mir geht es darum, dass wir uns Fragen stellen über das, was wir machen.
AH: Dir ist es also wichtiger, ein Denken zu initiieren als im engeren Sinn Fotografie zu lehren. Ein Student könnte bei dir auch etwas ganz Anderes als Fotografie machen?
WN: Ich versuche einfach, meine Erfahrung einzubringen. Wir machen gemeinsam Projekte, die manchmal gelingen, manchmal auch nicht. Im letzten Jahr haben wir ein Projekt zur Architektur der 1930er Jahre in Bozen realisiert. Das Projekt ist gut angekommen. Wir haben dann allerdings auch die Zensur einer Arbeit erlebt. Der Verwaltungsdirektor hat bestimmte Arbeiten abhängen lassen.
AH: Wieso?
WN: Es waren die Arbeiten einer chinesischen Studentin, die eine Arbeit zur rechtsextremen Bewegung „Casa Pound“ gemacht hat. Sie hatte Leute interviewt und porträtiert. Dann hat sie die Porträts zusammen mit den Aussagen der entsprechenden Personen gezeigt. Sie hat dabei ihre eigene Distanz zu diesen Aussagen durchaus sichtbar gemacht, also dass das, was die Interviewten sagen, nicht ihrer eigenen Sicht entspricht. Sie hat die Aussagen, die ja tatsächlich gemacht worden sind, einfach zur Disposition gestellt. Das war aber manchen zu viel und deshalb wurden einige Arbeiten abgehängt. Das scheint mir bezeichnend für Südtirol, wo man dazu tendiert, Probleme unter den Teppich zu kehren, statt über sie zu sprechen.
Artiparlando/Museion, Bozen, 2. Mai 2013