• Berg, Stephan — A Whiter Shade of Pale 2003

    Die Welt, wie sie in den Bildern von Walter Niedermayr erscheint, wirkt gespenstisch still und in einer Weise entbeint und ausgebleicht, als sei sie ihr eigenes Phantom. Trotz der Menschen, welche viele der großformatigen, stets mehrteiligen Fotos bevölkern, strahlen die Szenerien etwas eigentümlich Lebloses aus, als sei ihnen ihre körperliche Wirklichkeit entzogen worden und nur mehr die leere Hülle zurückgeblieben.

    Im Mittelpunkt dieses Werkes, das sich neben der breiten, muskulösen Phalanx der so genannten Becher-Klasse und ihrer Stars Andreas Gursky, Thomas Struth und Thomas Ruff einen völlig eigenständigen Platz im internationalen Kunstkontext erobert hat, steht die Reflexion des fotografischen Bildes als einer Konstruktion, welche zugleich mediale Selbstreflexion, eine Annäherung an die Malerei aus dem Geist der Fotografie, und die Zerlegung des in den fotografischen Serien erscheinenden Raums in eine Folge flächiger, diskontinuierlicher Fragmente betreibt. Neben den Alpinen Landschaften, die den Künstler Anfang der neunziger Jahre weithin bekannt gemacht haben, sind mittlerweile mit den Artefakten, Rohbauten und Raumfolgen weitere wichtige Serien entstanden, in denen Niedermayr seinem zentralen fotografischen Anliegen weiter nachgeht und dabei dem Grundimpuls treu bleibt, der seine erste große Bildgruppe der Bleichen Berge bewegte.

    Bereits in dieser Serie zeigt sich die Welt als grundsätzlich ort-, zeit- und raumlose Tabula rasa, perspektiviert durch Bildfolgen, die in ihrer Mehrteiligkeit auf eine paradoxe Art sowohl fragmentiert wie zusammenhängend erscheinen und durchdrungen sind von einem Schneeweiß, das nicht auf Luzidität und leuchtende Transzendenz zielt, sondern eher auf ein haltloses Nichts. Der Blick, der diese Zonen des Unverortbaren abtastet, ist nicht der Blick eines Beteiligten, der sich mitten im Geschehen befindet, sondern vielmehr der eines distanzierten Beobachters, der von außen und von oben operiert. In dem Katalog Reservate des Augenblicks wird dieser Blick mit dem eines Pioniers verglichen 1Francesco Bonami, »Tourist in fremden Diensten«, in: Walter Niedermayr. Reservate des Augenblicks, Ostfildern-Ruit 1998, S. 99. und gerade damit dessen eigentümliche Dimension verfehlt. Denn es ist eben nicht optimistische Entdeckerfreude, die sich in diesem Blick spiegelt, sondern die verhaltene Melancholie einer Wahrnehmung, die nicht mehr an die Illusion des Neuen, Unentdeckten, Unberührten glaubt und nun mit einer bodenlosen Fremdheit auf die Welt blickt, als repräsentiere sie den Blick eines Außerirdischen, den es auf die Erde verschlagen hat.

    Dieser zerfasernde, ins Flächig-Diskontinuierliche verschwindende, zivilisatorisch durchsetzte Raum in den Bildern Niedermayrs metaphorisiert eine Welterfahrung, in der alles durchmessen, zersiedelt und erforscht und eben dadurch seiner Spezifität verlustig gegangen ist. Gerade die vollständige Besetzung aller Räume macht nicht nur die Idee des Nichterreichbaren, Unzugänglichen zunichte, sondern generell Orte und Landschaftsräume austauschbar und damit in letzter Konsequenz unlokalisierbar: Kein Ort nirgends, weil alle Orte sich strukturell ähneln. Dass es auch in der Serie der Bleichen Berge nicht um die konkrete Topografie der Dolomiten, der Heimatlandschaft des in Bozen lebenden Künstlers, geht, zeigt schon der Titel der Folge, der auf eine Dolomitenlegende zurückgeht. So wie sich in der Legende eventuell Gewesenes und Erfundenes zu einem erinnerungsträchtigen Zusammenhang verbinden, operieren auch die Fotos Niedermayrs aus einer Haltung heraus, die nicht auf Fakten und Fixierung zielt. Vielmehr gelingt es allen Bildern des Künstlers, das Gesehene zu einem Ausdruck zu verdichten, in dem das Sichtbare benannt und gleichzeitig transformiert wird. Alle Arbeiten funktionieren insoweit als Metapher für die Thematisierung der Wahrnehmung als einem Akt zwischen Aneignung und Entzug, zwischen Benennung und Unsagbarkeit. Was wir sehen, verweist auch immer auf all das, was wir nicht beziehungsweise nicht mehr sehen können.

    Niedermayr verstärkt diese Ambivalenz noch durch die spezifische Inszenierung seiner Arbeiten: So führt gerade der durchgehend zu beobachtende panoramatische Gestus zu einem völlig antipanoramatischen Effekt. Der Blick geht in die Breite und die Weite, um sich schließlich darin zu verlieren. Das 19. Jahrhundert entwickelte aus der Theorie des Erhabenen – der Verwandlung der realen Schrecknisse der menschenfeindlichen Natur in ein ästhetisches Bild – eine Konzeption des Panoramas, in der sich Distanz und ordnender Überblick verbanden, um so Naturerfahrung zu einem perfekt ausgewogenen Balanceakt zwischen gefahrloser Aneignung und schützender Ferne zu machen. Niedermayr dagegen zitiert das Erhabene und die mit ihm verknüpfte Panoramasehnsucht, um sie im unterbelichteten Weiß seiner grundlosen Bildgründe aufzulösen. In der zur weißen Fläche drängenden, reduzierten Raumtiefe der Arbeiten tritt der Zusammenhang des Großen und Ganzen zurück, um für das Hervortreten der Einzelgegenstände Platz zu machen.

    Das ist eine der wesentlichen Erfahrungen, die wir an diesem Werk erproben können: Wie sich jede einzelne Gestalt, jedes Ding aus dem Raum, in dem es steht, teilweise löst und zu einem autonomen Element wird und dabei dennoch Teil des Kontextes bleibt, in dem es fotografiert wurde. Am stärksten ist das zweifellos an den Alpinen Landschaften überprüfbar, in denen die zivilisatorischen Eingriffe in die Berglandschaft, die Architekturen, Aufstiegshilfen, Pistenbullis und Skifahrer, zu farbigen, oft fast abstrakt wirkenden Einsprengseln im weißen Bildplan werden. Aber auch anhand der Artefakte und der Raumfolgen lässt sich diese Methode überprüfen. Deutlicher noch als in den Alpinen Landschaften arbeitet der Künstler in diesen beiden Folgen aber nicht nur an einer Fragmentierung des Raums, sondern geradezu an seiner alogisch anmutenden Verdrehung. Wir sehen Räume (zumeist aus Krankenhäusern), deren Wände sich zu einem real unmöglichen Kontinuum verbinden und urbane Zonen, deren Brücken und Hochbahnen so aufeinander bezogen sind, als würden sie in einer solipsistischen Bewegung nur um sich selbst kreisen. Der labyrinthisch ausweglose Eindruck, den diese Aufnahmen vermitteln, legt den Verdacht digitaler Manipulation nahe, der aber hier, wie in allen anderen Arbeiten, ins Leere läuft. Als bekennender fotografischer Asket erreicht Niedermayr das verblüffende Ergebnis vielmehr zumeist durch einen einfachen Perspektivwechsel, bei dem er sein Motiv zunächst von der einen Seite und dann, sozusagen gespiegelt, von der anderen Seite erfasst.

    In zweifacher Hinsicht kreisen die Serien Niedermayrs dabei um den Begriff der Konstruktion. Zunächst ganz direkt und pragmatisch in Bezug auf die Motive, die in Form von Skiliften, Architekturen, Straßen und den Möblierungen von Innenräumen, die Konstruktionen zeigen, mit denen wir unsere Welt buchstäblich erfahrbar und erlebbar machen. Des Weiteren in der spezifischen fotografischen Anlage der Bilder, deren serielle Fragmentierung und geisterhaft weiße Blässe, die sie durchleuchtet, die belichteten menschlichen Konstruktionen im offen vorgeführten Konstruktionsprinzip der Bilder spiegelt. Eng damit verknüpft ist der Aspekt der medialen Selbstreflexion, der das gesamte Werk begleitet und sich auf das Grundaxiom fotografischen Handelns bezieht, wonach das Medium die Spur von etwas abbildet, das tatsächlich da gewesen ist. Danach ist jedes Foto sowohl materiell mit der Wirklichkeit wie auch strukturell mit der Vergangenheit verknüpft. In der Tat tauchen die Gegenstände auf den Bildern Niedermayrs oft so auf, als befänden sie sich noch im Entwicklerbad, als wäre ihre Konkretisierung, die ihre direkte Referenz zur abgebildeten Wirklichkeit bezeugte, noch im vollem Gange. Die indexalische Manifestation ist angedeutet, aber sie bleibt in einer gewissen Schwebe, gewinnt nie die Dignität des faktisch Unumstößlichen. Insbesondere die Bilder der Alpinen Landschaften können immer auch so gelesen werden, als sei das, was sich zeigt, gerade im Begriff, sich wieder zu entziehen. Als schauten wir dem langsamen Verblassen der Restzeichen im Weiß der Matrix zu, hinter dem schlussendlich das »weiße Rauschen« des Unsichtbaren stünde.

    Dieses Moment des Verlöschens, des Verlusts kann durchaus in Zusammenhang gebracht werden mit der Idee des Fotos als Spur des Vergangenen. Auf eine völlig unsentimentale, nüchterne Weise durchzieht diese Bilderwelt die Atmosphäre einer unaufhebbaren, grundsätzlichen Abwesenheit. Alles, was wir sehen, ist präsent nur als Nachbild, als Erinnerung an eine Welt, die sich nur mehr als entschwindende rekonstruieren lässt. Auch deswegen ist es nahe liegend, dass Niedermayr in seiner Serie der Raumfolgen vorzugsweise die Innenwelten von Krankenhäusern fotografiert, jene Orte, die mit dem Blasswerden des Lebens und seiner Bedrohung durch den Tod verbunden sind. In einer dreiteiligen Arbeit aus der Folge der Artefakte spitzt sich dieser Zusammenhang noch zu: Im milchigem Licht eines unbestimmbaren Herbstes erstreckt sich vor unseren Augen ein gewaltiger Friedhof, dessen weißgraue Grabsteine mit der fahlen Skyline New Yorks zu einem Panorama verschmelzen, in dem Tod und Leben, Abwesenheit und Anwesenheit sich bildlogisch gegenseitig ausbalancieren und damit in einer zeit- und ortlosen Ewigkeit aufheben.

    Es sind eben diese Verwerfung des klassischen Zeit-Raum-Gefüges und die daraus resultierende Flächigkeit des Bildangebots, die zusammen mit der weiß grundierten Anlage der Arbeiten ihre malerische Wirkung befördern. Der durch Unterbelichtung entstandene helle Fond der Fotografien ähnelt strukturell der grundierten Leinwand, auf der die Motivelemente sich zu einem malerischen All-over anordnen. So kann es geschehen, dass die bunten Fähnchen, die im nebligen Schneeweiß der Piste einen Slalomparcours abstecken, eine unvermutete Nähe zu den farbigen Pinselabdrücken aufweisen, mit denen Niele Toroni seine Leinwände markiert. Überdies verstärkt wird dieser Eindruck des Malerischen durch die kompositorische Ausgewogenheit der Folgen, in denen jedes Detail schlussendlich die gleiche Wichtigkeit für sich beansprucht und so auch als eigenes, autonomes Farbding erscheint. Diese Autonomisierung geht so weit, dass viele Elemente in den Alpinen Landschaften oder den Raumfolgen gar nicht als interner Teil des Bildes wirken, sondern, wie Martin Prinzhorn richtig bemerkt hat, geradezu über der Komposition zu schweben scheinen. 2Martin Prinzhorn, »Die doppelten Böden der Verdrängung«, in: Walter Niedermayr. Raumfolgen 1991–2001, Wien 2001, S. 71.

    Insgesamt begegnen wir in Walter Niedermayrs Werk der Haltung eines Skeptikers. Grundiert von der Atmosphäre kühler Elegie, protokolliert der Künstler sein Panorama der Naturzerstörung und zivilisatorischen Weltkonstruktion nicht mit moralischer Entrüstung, sondern aus einer kalkulierten Distanz heraus. Die sanfte Unterkühlung, die uns aus vielen dieser Arbeiten entgegenweht, ist insofern kein Zeichen emotionaler Teilnahmslosigkeit, sondern dient der Klärung der Perspektive: Inmitten des Geschehens sieht man oft weniger als von außen. Nicht nur in den Bergbildern, sondern eigentlich in allen Serien opponiert der Künstler gegen die Vorstellung von Absolutheit, Reinheit und Idealität. Hinter den ort- und zeitlosen Labyrinthen, den Unübersichtlichkeitspanoramen, die er von unserer Welt entwirft, versteckt sich weniger eine romantische Trauer über den Verlust an sinnhafter Ordnung und Klarheit als vielmehr die Überzeugung, dass es diese Form der Ordnung und idealen Klarheit ohnehin nie gegeben hat, außer in einer Form der ästhetischen Konstruktion, die uns diese Arbeiten sozusagen ex negativo vorführen.

     

    Veröffentlicht in the Monographie: Zivile Operationen