Baier, Franz Xaver — Zivile Operationen 2003
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(SMS, 2001 während des Weltwirtschaftsgipfels in Davos auf einen verschneiten Berghang projiziert) 1Diese Projektion entstand im Rahmen eines Projektes der Künstlergruppe Calc (www.calcaxy.com).
BLICK
Sehen und Betrachten dessen, was wir »Die Wirklichkeit« nennen, ist wohl immer in Wahrnehmungsmuster eingelagert. Wir bemerken dies nur meistens nicht. Das gewöhnliche Betrachten etwa bewegt sich in Wahrnehmungsstrukturen, welche vielleicht einem Objekt angemessen sind, nicht aber dem Lebendigen, nicht dem Komplexen, Zusammenhängenden und Möglichen. Sehgewohnheiten werden häufig einfach übertragen, ohne dass dies dem Betrachter selbst auffällt. Mit welchem Blick schauen wir also? In welchen Sehgewohnheiten leben wir?
Während der Arbeitssitzungen, in denen Walter Niedermayr seine Bildauswahl für das vorliegende Buch darlegte, zog er die Probeabzüge Blatt für Blatt aus den Hüllen und legte sie behutsam auf die Tischfläche zwischen uns. Unsere Haltung in gespannter, aber ruhiger Aufmerksamkeit darauf gerichtet, die Fotografien in Augenschein zu nehmen. Erst viel später kam mir diese Prozedur wieder in den Sinn. Der Vorgang ist so unscheinbar und enthält dennoch eine tiefe und alte Wahrheit: Das Aufdecken aus dem Verborgenen. Die Entfaltung von Punkt zu Raum. Die Entfaltung auch einer eigenen intimen Distanz, die nicht trennt, sondern fruchtbar ist. Das Erscheinen in einer Aura. Die offene Nähe, die man in existenzieller Hinsicht »sich aussetzen« nennt und die bedeutet, dass man sich betreffen, erreichen und berühren lassen kann. Aber vor allem war da die Frische des Sehens. Anfang. Geburt eines Sehens, worin man selbst als Sehender neu wird. Das war nicht das übliche Betrachten und Hinsehen auf opake Flächen, vielmehr ein Gesamtvorgang, aus dem Bild, Betrachten und Betrachter zugleich hervorgingen. Primäres Sehen also. Inniges Verhältnis. Und die Erkenntnis, dass nur das wirkliche Sehen sein kann und dass Wirklichkeit nur so wirklich wirkt.
DER SICH ÖFFNENDE BLICK
Raum ist noch nicht aufgeteilt in das starre Dreieck Bildobjekt – Sehen – Betrachter, sondern ist ein ungeteiltes Ganzes, das voluminös aufquillt. Dabei elastisch und fragil, eine Protuberanz von Leben. Ankunft und Aufgang von Wirklichkeit. Sicht ist unmittelbar Einsicht. Und man denkt: genau.
Dieser Blick übersteigt das Vorgegebene, aber nicht in Richtung auf etwas außerhalb Liegendes, vielmehr im Hinblick auf es selbst, auf seine eigene, vielleicht noch unentfaltete Möglichkeit dessen, »was den Erfahrungsumkreis transzendiert, was an den Dingen mehr ist als ihr vorweg bekanntes Dasein« 2Theodor Adorno/ Max Horkheimer, in: Rüdiger Safranski, Nietzsche. Biographie seines Denkens, München 2000, S. 360.. Zugleich unterbricht solches Sehen Verfallsformen der Zeit wie Linearität und Ablauf und zeigt, dass das Innerste der Wirklichkeit Spontaneität, Kreativität und Freiheit sind und dass der Mensch ein Wesen des Anfangs ist. Das ist eine Befreiung aus dem Gefängnis des bloßen Scannens von Wirklichkeit. Es ist eine ursprüngliche Offenheit, worin die Welt uns anblickt und die Zweiteilung aufhebt. Gegenwart also. 3Eine ausgezeichnete Untersuchung zu diesem Phänomen bietet Georges Didi-Huberman, Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999.
Wie die Lebensphilosophie seit Nietzsche setzt Niedermayr bei der lebendigsten Form von Wirklichkeit an und nicht bei einer mechanistischen. Deshalb kritisieren die Bilder auch nicht direkt, sie prangern nicht an und sind nicht sensationell im medienüblichen Sinne. Stattdessen sensibilisieren sie, machen sensitiv und sind dann doch, diesmal im Ursprungssinn, Sensationen als Erregungszustände, die zu einer Haltung aufrufen.
In diesem Blick ist das Bewusstsein nicht drinnen im Kopf, sondern es ist draußen bei den »Sachen« selbst. Das ist auch die revolutionäre Einsicht der Phänomenologie. Von hier aus ist der Wunsch verständlich, alles nochmals neu zu sehen. Ohne Vorurteile, ohne Zweckgerichtetheit, ohne Projektionen und Wunschvorstellungen, ohne Besitzergreifung. 4Vgl. Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München 1994.
Es ist ein ruhiger, offener und unaufgeregter Blick, der sich nicht fesseln lässt von einzelnen Objekten. Und nur so lassen sich Strukturen, Komplexität und Lebensmuster erkennen. Eine Wahrnehmung, die zum Beispiel auch Bergsteiger betonen, weil sie nur dadurch ihren Weg finden. So wird auch aus scheinbar toten Wänden etwas Strukturelles, Filigranes, Zartes, Poetisches. Die plakativen Flächen öffnen sich und die entfaltete Wirklichkeit rückt unserem Empfinden körperlich sinnenhaft näher. Es ist eher so wie in der berühmten Zen-Geschichte, wo nach langer Übung und endlich gelungener Einsicht ein Berg wirklich ein Berg sein darf.
Eine höhere Wahrnehmung führt auch zu einer höheren Realität. Eine, die lebendiger, kreativer, geistreicher ist. Wirklichkeit ist dynamisch und steigerbar. Nur durch eine vorgängige Zerteilung und Reduktion auf bloße Vorhandenheit kann so etwas wie eine Abbildtheorie entstehen, die eine objektiv gegebene Realität einerseits und Erscheinungen, Abbilder, Verklärungen andererseits behauptet. Ein offener Blick ist keine »Verklärung des Gewöhnlichen« (Arthur C. Danto), es wird auch nichts »verzaubert« oder verfremdet. All diese Ansichten suggerieren immer noch eine Wirklichkeit an sich, von der es verschiedene Abweichungen geben soll. Man will nicht wahr haben, dass unser Blick erzeugend wirkt: teilend, abstoßend, nähernd. Da heute alles »in Fahrt« ist, muss man »die Welt anhalten«, um einen tieferen Eindruck von ihr zu erhalten und ein Sich-öffnen herbeizuführen. Ein Vorgang, den unsere Seele oftmals durch Krankheit erzwingt. Die Beschleunigung von Wahrnehmung, Sprache sowie Verarbeitungsprozessen trennt ja eher ab, verschließt die Umgebung und macht Menschen zu Gefangenen ihres eigenen Sehens. Deshalb wird heute folgerichtig eine »Kultur der Langsamkeit« gefordert.
BILDER
So betrachtet, ist klar, was Bilder von Abbildern eigentlich unterscheidet. »Fotografieren heißt Bilder machen – also Bilder von etwas, also abbilden? Allerdings. Und doch fängt die Kunst der Fotografie genau dort an, wo es kein Etwas gibt, das sich abbilden ließe. Fotografie als Kunst heißt, sich ein Bild machen, etwas im Bild erscheinen lassen, das an sich nicht sichtbar ist, nicht so, dass es als Urbild einem Abbild vorstehen könnte.« 5Gernot Böhme, Theorie des Bildes, München 1999, S. 108. Radikalisiert man die Bildtheorien, dann liegt im Bild ein besonders hoher Grad an Wirklichkeit vor, mit einer besonderen Verwirklichungsdichte, sodass man sagen kann: »Bild meint immer eine starke Form der Wirklichkeit« 6Heinrich Rombach, Der kommende Gott. Hermetik – eine neue Weltsicht, Freiburg 1991, S. 124.. Am Bild wird uns klar, was etwas »wirklich« ist, und wir sehen »wirklich« eine Landschaft. Das ist besonders hervorzuheben, weil mit dem Realitätsblick heute der Sinn für das wirkend Wirkliche in Gefahr ist. Die gängige Vorstellung, dass Wahrnehmung der bloß subjektive Eindruck einer an sich objektiven Realität sei, wurde längst widerlegt. Auch »Realität« ist ein Modus von Wahrnehmung und noch nicht einmal ein besonders geistreicher.
Es kann nicht oft genug betont werden: Bilder sind im Unterschied zu Abbildungen wirklichkeitserzeugend. Abbilder zeigen, wie etwas ist, während Bilder Zustände erzeugen, die sehen lassen, wie etwas geworden ist, was möglich ist, und vor allem, wie flüssig die so genannte Realität im Grunde genommen ist. Bilder sind weder »Fenster« noch »Imagination«, vielmehr frische und ambulante Schichten aus einem permanenten Bildeprozess, in welchem die Wirklichkeit tatsächlich auf dem Spiel steht. Diese Art der Wahrnehmung ist nicht nur kreativ, vielmehr konkreativ in dem Sinne, dass künstlerische Strategie und Wirklichkeit zusammengehen. Die Wirklichkeit ist selbst schon sprechend. Niedermayrs Bergbilder beispielsweise zeigen das ganze Spektrum von harter Gegenständigkeit bis hin zu gelöster Inständigkeit.
Auch das Bildermachen gehört in eine umfassende Operation, durch die es einen bestimmten Blick transportiert. In Niedermayrs Arbeit ist das implizit ein Thema. Statt Feldherrnblick und Übersicht wird die eigene Augenhöhe eingesetzt. So gehen die hier versammelten Bilder weniger in die Ferne, sondern zeigen vielmehr Wirklichkeit als nahes Gegenüber. Von Gesicht zu Gesicht, von Haut zu Haut. Und auch der Maßstab ist meistens sichtbar und hat Bezug zum Menschen. Man sieht keine An-sich-Natur, vielmehr die Zeitlichkeit einer menschlichen Lebensdauer im Verhältnis zu einem Baum, einem Felsgestein, dem Schnee.
Wie schon Niedermayrs Arbeiten Die bleichen Berge mehr in Beziehung zum Mond als zur Sonne standen, so ist auch hier das Licht auf den Oberflächen nicht grell, sondern durchdringend, sodass die Zusammengehörigkeit der Bildelemente offenkundig wird.
Es ist offensichtlich, dass der Künstler aus der Vielzahl von Zeitformen, die unser Leben bestimmen, die längerfristigen ausgewählt hat. Ereignishaftes und Spitzenmomente treten kaum in Erscheinung. Außer vielleicht in den Operationsbildern sieht man kaum akutes Geschehen. Die Zeitform, die unser alltägliches Leben in Form von Hetze, Geschwindigkeit bestimmt, ist weitgehend eliminiert beziehungsweise von eher flüchtiger Konsistenz. Dafür treten die dauerhaften, andauernden und epochalen Strukturen umso mehr zutage. Das »immer wieder«. Das »ständige Hin und Her«. Das ist nur mit einem Blick der längeren Dauer zu erfassen. Vielleicht hat Walter Niedermayr den Blick der Berge.
Durch kleine Verschiebungen des Augenpunktes entstehen mehrteilige Bilder, die sich an den Rändern überschneiden. So wird das Bildgeschehen gedehnt und gleichzeitig durch das lebendige, vom Betrachter zu leistende Hin- und Herspringen der Aufmerksamkeit zu einem Bildgeschehen potenziert. Auf diese Weise ist der Betrachter mitten im Bild, und die singuläre Präsenz des Einzelbildes ist in etwas Gemeinsamem aufgehoben.
Jede Sicht hat einen immanenten Standpunkt sowie eine bestimmte Zustandsform von Wirklichkeit. Im Unterschied zu den üblichen Luftaufnahmen, die aus der Subjekt-Objekt-Distanz aufgenommen sind und vergegenständlichte Landschaften abbilden, zeigen die Bilder von Walter Niedermayr andere Zustände. Er geht in die Wirklichkeit hinein und bewegt sich in ihr. So umgeht er eine plakative Außensicht und zeigt, dass Wirklichkeit selbst schon Bildwirklichkeit enthält. Damit wird deutlich, dass wir in Bildern leben, in Bildern sehen, in Bildern handeln. Das bedeutet aber auch: Wir sehen Binnenlandschaften, Binnenstrukturen, Bilder in den Bildern, die ineinander greifen, aufeinander und ineinander verweisen. Deshalb kann man von den Bergen in den Operationssaal springen oder in die Bilder der Rohbauten, und man wird sehr lebendige neue Bilder und Zusammenhänge sehen. Im Unterschied zu den üblichen Ansichtskarten zeigen diese Bilder, dass es der eigene Lebensraum ist, den wir gestalten oder verunstalten.
Um Vorgänge in komplexen Sachverhalten zu bezeichnen, wird häufig der Begriff »Operation« verwendet, im Sinne von Rechenoperation, militärischer Operation, medizinischer Operation. Operieren heißt öffnen, freilegen, Haut aufschneiden, unter die Haut gehen, im Inneren wirken. Es bedeutet Eingriff, ins Innere eines Organismus eingreifen. Es ist eine Radikalisierung von Begreifen und Begriff, da auch die unsichtbaren Zusammenhänge bemerkbar werden. Dieser Begriff ist Ausdruck derjenigen Theorien, die nicht die einzelnen Körper in ihren Beziehungen zu begreifen suchen, sondern das organische, lebendige Wirken, das durch die Körper hindurch wirkt. So betrachtet, bekommen auch Bilder eine andere Bedeutung, und man sieht, dass auch in Landschaften und Bergen operiert wird. Auch hier gibt es Einschnitte, Brüche, Narben, die ab und zu durch den Schnee wie durch einen Wundverband verbunden werden. Man sieht die Ähnlichkeiten zwischen Blutbahnen und Autobahnen, zwischen den neuralgischen Punkten im Nervensystem und den Knotenpunkten eines Verkehrssystems. Narben im OP-Bereich verweisen auf Narben im Gebirge, Schnitte von Chirurgen gleichen schnittigen und schneidigen Skifahrern, die Haut und Gewebe durchtrennen. Und man sieht den Aufwand an Technik, von der eine Operation heute abhängt. So entstehen strukturelle Wahrheiten, die so Verschiedenes wie Berge – Autos – Sehnsucht – Gefängnis in einer organischen Struktur aufdecken und viele andere Dinge mitbestimmen: eine bestimmte Erschließung von Landschaft, Geschwindigkeit, Wahrnehmungsformen, Linearität, Ziele, Horizonte, Fluchten. Ein Bild ist allerdings zunächst einmal eine zweidimensionale Fläche, auf der komplexe und mehrdimensionale Situationen in die Ebene gebracht werden. Räume sind komplexer als Flächen und grundsätzlich nur über eine Konstruktion von Illusion abbildbar. Gewöhnlich wird versucht, auch die Raumtiefe ins Bild zu bringen. Walter Niedermayr ist klug genug, uns keine Räume vorzugaukeln, wo nur Flächen sind. Deshalb geht er bewusst den umgekehrten Weg. Er nimmt die Raumtiefe wieder aus dem Bild, indem er die Aufnahmen bei der Entwicklung im Labor unterbelichten lässt. (Das Papier bekommt weniger Licht als für die »richtige« Belichtung nötig wäre). So wird die Raumtiefe in die Bildebene transformiert. Folglich können wir uns nicht einfach bequem einlassen und der Illusion hingeben, wir wären tatsächlich in einer Landschaft, wie das millionenfach die so genannten Prachtbildbände suggerieren, durch die man Landschaft an »langen Winterabenden gemütlich« von Zuhause aus genießen kann. Zugleich werden durch die fehlende Raumtiefe die eigentlich hintereinander liegenden Bildelemente übereinander organisiert und bekommen so neue Bedeutung. Das Triptychon des New Yorker Friedhofes zeigt so gesehen eine Raumstaffelung aus Gräberfeld – Stadtkante – Wolkengebirge und offenbart damit so etwas wie eine Transsubstanziation. Die Methode des Unterbelichtens hat aber auch noch andere Vorzüge. So werden zum Beispiel die Körperhaltungen von Menschen freigestellt, und man kann erkennen, wie Skifahren, Snowboarden oder Slalom in die Landschaft eingreifen.
Niedermayrs Bilder ersparen uns nicht die harte Faktizität der Wirklichkeit. Er lässt keinen Platz für Illusionen, sondern bedient sich eher einer alten taoistischen Methode, die etwas ungesagt lässt, dadurch ein Vakuum erzeugt, und den Betrachter veranlasst, es mit eigenem Leben zu füllen.
MOTIVE
Überblickt man die Bildthemen in den vorliegenden Arbeiten, so lassen sie sich ohne weiteres in folgender Reihe anordnen: auf der einen Seite Gefängnis, Krankenhaus, Rohbauten und auf der anderen Seite Berge, Freizeit, Spielräume. Dazwischen die Erschließungssysteme, Verkehrssysteme, Transiträume. Und obwohl so verschiedene Orte wie Tokio, New York, Paris, Japan, Norwegen, Berlin und die Alpen zusammenkommen, bilden sie thematisch dennoch so etwas wie eine Philosophie des Wohnens an einem festen Orte – aber im großen Stil. Grundsätzliche Themen unseres Lebens klingen an: Bauen, Wohnen, Unterwegssein, Freiheit, Spiel, Krankheit und Tod, aber auch Verdichtung und Auflösung, Härte des Steins und der Existenz, des Alltags, des Betons, der Bestimmungen, Vorschriften einerseits. Und Auflösung, Lösung, Leichtigkeit, Wolken, Licht, Luft, Spiel, Poesie, Freiheit andererseits. Das erinnert wieder daran, dass man ja primär auf einer Erde und unter dem Himmel wohnt. Ein Thema, das alle großen Dichter besungen haben.
Die Bilder zeigen dabei weniger das soziale Miteinander unter den Menschen als vielmehr die räumlich-zeitlichen Situationen, die als feste Einrichtungen unser Leben beherrschen. Das, was uns permanent beeinflusst, regelt, führt, anweist und was die Philosophie heute mit In-der-Welt-sein, in Situationen-sein als die Wesensverfassung des Menschen erkannt hat. So ließen sich die Fotografien leicht als Dokumentation unserer Lebenssituationen einordnen. Auf der einen Seite das Gefängnis als Ort der Unfreiheit, auf der anderen die Berge als Orte der Freiheit. Da Enge. Dort Weite. Die Fotografien so zu sehen, ist nicht grundsätzlich falsch. Aber das Sehen wäre schnell am Ende und man würde das Entscheidende, Fruchtbare verschenken, denn Niedermayrs Arbeiten illustrieren diese Themen nicht. Als Bild und Binnenwirklichkeit wirken die Orte oft genau umgekehrt.
Würde man die Motive zu einem einzigen Bild verdichten, so wäre es mit Paul Cézannes berühmtem Gemälde Der Bahndurchstich (um 1870) verwandt. Mit ein paar wenigen Elementen hat der Maler hier bereits die Probleme der heutigen Zeit vorweggenommen: tiefe Eingriffe in die Natur, Zersiedelung, beschleunigte Wahrnehmung, Reizüberflutung. Und gegen diese Tendenz setzte er die Kraft der Natur, die geheime Korrespondenz des Zusammenhalts der Dinge. 7Hajo Düchting, Cézanne, Köln 1989, S. 58 f
LEBENSRAUM
Menschen leben generell als ausgedehnte Situationswesen von verschiedenem Format. Situationen sind komplexe Strukturen, die Identitäten enthalten, bestimmte Verhaltensweisen nahe legen, unterschiedliche Raum- und Zeitformen vorgeben und dadurch tief in unsere Existenz eingreifen. Angst und Hoffnung, Enge und Weite sind keine rein psychologischen Muster, sondern sind in konkreten Situationen verankert. Die Situationen haben Entsprechungen in unserer Existenz. Weite entspricht auch einer Anmut, wenn wir selbst weit werden und nicht nur in der Weite herumstehen. Enge und Aussichtslosigkeit machen depressiv. Die menschliche Existenz ist so angelegt, dass sie Nahsituationen (Körper, Wohnung, Haus, Stadt) und Fernsituationen (Berge, Landschaft, Kosmos) braucht, und diese in einem Zustand durchlässiger, elastischer Leiblichkeit, sodass man mit und aus ihnen leben kann. Lebewesen sind Einrichtungswesen. Deshalb richten sich Menschen sogar in Autos ein und bilden kleine, wenn auch fahrbare Situationen.
Die Gefährdung dieser Struktur liegt darin, dass die weiten Beziehungen abgeschnitten werden und dass Lebendigkeit institutionalisiert wird. Dann wird die weite Leibexistenz auf eine tote Objekthaftigkeit reduziert. Schaut man sich hierzu etwa Niedermayrs Krankenhaus- und Gefängnisbilder an, so fällt auf, dass die vormodernen Situationen noch für Leib und Seele konzipiert waren, während die modernen Einrichtungen den Körper bereits als Gegenstand behandeln. Man sieht einmal Einbindung in weiträumige, bis ins Religiöse gesteigerte Einrichtungen und dagegen Reduktion, Technik, Funktion. Man sieht das Kantige, Rechteckige, Nüchterne und die Strategien des Systematischen. Das größere Bett in Form einer universalen Einbettung ist verschwunden zugunsten einzelner Module in einem Schaltkreis von Funktionen, die auch in Verkehrssystemen vorherrschen. Die meisten Dinge haben Rollen und Räder, und die Wände sind abstrakt, abweisend und haben Leitplanken. Dass dies als seelenlos empfunden wird, bedeutet, dass der Mensch nicht in seiner vollen Ganzheit und Weite angenommen, sondern auf ein momentanes Problem reduziert wird.
Der Prozess der Zivilisation hat eine Vielzahl an Richtungen, Einrichtungen, Vorrichtungen hervorgebracht, um das soziale Zusammenleben zu organisieren. Schulen, Krankenhäuser, Gefängnisse, Autobahnen sind nur einige dieser Einrichtungen. Nach Michel Foucault sind diese Einrichtungen Maschinen: Schul-Maschine, Gefängnis-Maschine, Hospital-Maschine, weil sie Systeme bilden, welche bestimmte Programme, Regeln, Architekturen und Mechanismen zusammenschließen. 8Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt a. M. 1997, S. 59. So gesehen gibt es eine Technologie des Menschen, die den Objekten zugrunde liegt, sich aber nicht nur auf Einzelnes bezieht, sondern die ganze Gesellschaft durchdringt. Die Technik des Einsperrens und Bestrafens etwa gibt es auch in Schulen, Kasernen, in der Religion und in vielen sublimen Formen auch im sozialen Leben, in der Sexualität, im Umgang mit dem eigenen Körper und in den vielen Technologien, die wir ihm zumuten. Zum Gefängnis kann der gesamte Lebensstil werden. Der Prozess der Zivilisation bringt also in erster Linie nicht Dinge hervor, vielmehr »Praktiken der Wahrheitsproduktion«. 9Safranski 2000 (Anm. 1), S. 362. Und Philosophen wie Foucault oder Nietzsche waren an der Genealogie dieser Praktiken interessiert, weil sie der Schlüssel für alles sind.
Die Techniken produzieren und erschließen immer eine totale Wirklichkeit. So sind es die Wege, die erschließen. Aber Wege sind zugleich auch Methoden (gr. methodos = Weg), die etwas auf eine bestimmte Weise offen legen. Sie beinhalten ein bestimmtes Sein. Pfade, Wege, Straßen, Autobahnen, Luftkorridore verweisen nicht nur auf verschiedene Arten, sich fortzubewegen. Die damit verbundenen Techniken erschließen auch die Natur je anders, lassen sie je anders erscheinen und erzeugen unterschiedliche Verknüpfungen von Mensch und Umwelt. Deshalb erschließt die Anfahrt mit dem Auto eine andere Landschaft, als wenn man zu Fuß geht und die Sport- und Freizeittechniken eröffnen nicht nur neue Handlungsmöglichkeiten, sondern produzieren auch völlig neue Landschaften, die das anfänglich notwendige Verhältnis von Mensch und Natur zu immer ausgelegteren und ausgetreteneren Verhältnissen lockern. Das Handeln ist eben kein Handeln in der Landschaft, vielmehr durch die Landschaft hindurch. Es ist »Grundhandeln«. 10Heinrich Rombach, Strukturanthropologie, Freiburg/München 1987, S. 394 f.
Schaut man sich die Entwicklung der Fortbewegungsmittel an, so sieht man, wie sich die ehemals offenen Gefährte und Fuhrwerke in zunehmend geschlossene und ferngesteuerte Projektile und Überlebenskapseln verwandeln. Der Wagenlenker wurde zu einem Insassen, der angeschnallt und festgezurrt in einem Cockpit mit minimalen Bewegungen eine vorbestimmte Spur einhalten muss. Wahrnehmungshorizont und Beziehungsspielraum zur Umgebung sind abgeblendet und auf wenige Ausschnitte fixiert. Den Verkehrssystemen ist der »Tunnelblick« immanent. Das heißt, Ziele werden vorne angeordnet, der Zwischenraum von Ausgangsort und Zielort wird gestreckt. Landschaften werden zu Seitenwänden mit Verschleifungen, und es entstehen glatte Räume für ein Projektil. Diese so genannten Transiträume und Non-Places werden üblicherweise negativ bewertet. So meint der Philosoph der Geschwindigkeit Paul Virilio: »Weitgehend verkannt aber sind nach wie vor die Wirkung der Fahrzeuggeschwindigkeit auf das Gebiet, das fortschreitende Verschwinden der Realität der Körper und der Gelände in der Geschwindigkeit der Reise, die Auflösung des Ortes zugunsten des Nicht-Ortes der Fahrt, zugunsten der Abwesenheit des Passagiers.« 11Paul Virilio, »Fahrzeug«, in: Karlheinz Barck (Hrsg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 67. Und der New Yorker Stadtsoziologe Richard Sennett weist generell darauf hin, dass die Tendenz zu einem »reibungslosen Fließen«, zu »Bedienerfreundlichkeit« und dem Herabsetzen der Widerstände in den Umgebungen unseren Kontakt mit der Welt schwächt bis hin zur Apathie. 12Richard Sennett, »Der Tastsinn«, in: Ute Brandes (Hrsg.), Der Sinn der Sinne, Göttingen 1998, S. 484. Es ist vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis neue und positive Effekte auftreten. Niedermayrs Bilder von Autobahnen, Brückenköpfen und Verkehrsknoten, die er als Artefakte bezeichnet, zeigen deutlich ein mögliches Potenzial dieser Unorte. Es gibt eine Menge Restflächen, die neue Raumqualitäten erzeugen und wie Residuen aus vergangenen Zeiten ein Abseits zur Zivilisation erzeugen.
GEFÄNGNISSE
Während Leben bedeutet, dass Zellen organisiert und zu größeren Einheiten (soziale Verbände, Familie, Verwandtschaften, Seilschaften, Gesellschaften) zusammengefügt werden, so macht die Strategie eines Gefängnisses das Gegenteil: Sie praktiziert die Zellteilung. Der Inhaftierte wird isoliert, eingesperrt und fern gehalten. Gefängnis bedeutet Einschränkung, vor allem der Bewegungsfreiheit, aber auch Beschränkung, Befangenheit, Gefangenschaft, und die Wände der Zellen können heißen: Reglementierung, Gesetz, Vorschrift, Schranke, Barriere, Konvention, Gewohnheit, Kurzsichtigkeit, Verhärtung, Sedimentierung, Versteinerung und Borniertheit. In Gefängnissen müssen die Insassen immer warten, dass ihnen aufgeschlossen wird. Sie haben keine Schlüsselgewalt, und die Türen haben keine Griffe. Das provoziert Ausbruchsversuche, die mitunter zu extremen Reaktionen führen.
So genannte Extreme wollen Leben und Tod spüren. 13Vgl. Helga Peskoller, Extrem, Wien/Köln/Weimar 2001. Sie wollen sich nicht im Vorgegebenen behaglich einrichten. Sie wollen sich selbst eine Welt erschließen. Sie nehmen die vorgegebene Wirklichkeit nicht einfach hin, sondern wählen die für sie größtmögliche Herausforderung, die zur Berufung werden kann. Darin liegt Existenzbewältigung, Identität bis hin zu Religion. Hobbyisten dagegen leben eher in ausgelegten Spielbereichen. Das unter Vielem lässt alles in einem allgemeineren Licht erscheinen und macht das jeweils Konkrete eigentlich überflüssig. So muss Durchschnittlichkeit entstehen, Beliebigkeit, Unterhaltungsindustrie und Sehnsucht nach Intensität.
Es sind heute die Systeme mit ihren eingeschriebenen Zwängen, die den Menschen einsperren und das Leben schwer machen. Einschränkung des Lebensraums durch Wohn- und Arbeitsverhältnisse, Büros, Fabriken, Wohnsilos, Autos und Verkehr als mehr oder weniger geschlossene Containersysteme mit rigorosen Verhaltensvorschriften, Hausordnungen und Verkehrsvorschriften. So gesehen gibt es viele Gefängnisse – in einem weiteren Sinne. Lockere Gefängnisse, spielerische Gefängnisse. Mit angewandter Chaostheorie muss man das heute nicht mehr so eng sehen.
SPIELRÄUME
Menschen brauchen Weite, Spielräume und Poesie. Berge und Tourismus stehen heute für ausspannen, sich dehnen. Weite als Ausdehnung der reduzierten Lebensverfassung des Alltags. Aber Weite ist nicht nur objektive geometrische Ausdehnung der Landschaft. Menschen wollen sich ihrer Natur nach auch selbst ausdehnen. Weite ist somit etwas Existenzielles, eine ursprüngliche Verfassung, die den Menschen zur vollen Größe des Daseins erhebt und diese ihm zumutet. Damit die Ausweitung aber gelingen kann, muss der Mensch »raumlöslich« werden. Das ist für viele Menschen aber mittlerweile ein Problem. Da die Gesellschaft hauptsächlich Anstrengung, Spannung, Verkörperung und Körperlichkeit verlangt, ist die Fähigkeit zu löslicher räumlicher Existenz verkümmert. Menschen sind zu sehr im optischen, distanzierten Sehen fixiert und stehen deshalb häufig so hilflos herum. Sie sind nicht wirklich in den Landschaften. Man kann in Niedermayrs alpinen Bildern oft sehen, dass die Menschen ein zu kleines Format haben für das Große, das ihnen da gegeben wäre. Deshalb stehen sie wie verloren herum und finden keine entsprechende Haltung in dieser Größe. Das eingefahrene, festgefahrene Gefangenenformat des engen Alltags wird deutlich. Sie bräuchten eine neue größere Verfassung, denn sie haben Formatprobleme und die kuscheligen bequemen Wohnzimmerstrukturen übertragen auf Unterwegssein und Landschaft. Die falsche Ausdehnung also. Bekannte Formate werden ausgedehnt auf Umgebungen. So entstehen Landschaften als Wohnzimmer. Badewannenlandschaften, Wohlfühllandschaften, die den Menschen nichts abverlangen. Aber genau das führt dazu, dass Menschen noch passiver, formloser und teilnahmsloser werden. Was wäre also zu tun?
Viele Intellektuelle erkennen heute, wie wichtig es ist, den Körper als Erfahrungsquelle zuzulassen. Mit den eigenen Füßen, mit eigener Körperarbeit, im engen Kontakt mit Materialien wird eine andere Wirklichkeit aufgebaut als mit den Transportkapseln. Denn die Kapsel ist glatt und isoliert, während durch das Gehen die Landschaft selbst mit uns irgendwann mittendrin als Einheit hervorgeht. Eben durch die Aktivierung des ganzen Körpers, inklusive Schwitzen, die zeitliche Dauer, die geleistete Ausdehnung der Strecke, durch die auch der eigene unsichtbare Leibraum ausgedehnt wird. Solche Erlebnisse sind lange in Erinnerung. Sie dehnen auch das Gedächtnis aus. So gibt es mittlerweile Zeitgenossen, die einfach aus der Haustür treten und mit ihrem Hund losgehen. Hunderte Kilometer. »Expeditionen vor der Haustür«. 14Gemeint ist hier Robert Schauer, von dessen »Expeditionen« ich in der Süddeutschen Zeitung vom 7.10.2002 las. Nur mit dem Nötigsten befrachtet und einer Karte ohne Wegmarkierungen, um die instinkthafte Orientierung nicht zu behindern
AUSSICHT
Der größte Spielraum ist das Sein selbst. Deshalb betonen Philosophen wie Heidegger den Spielcharakter so sehr. Denn »in der Erfahrung des Seins entdeckt sich der Mensch als Spielraum. Er ist nicht im Seienden gefangen und festgerannt«, sondern er hat die Fähigkeit, durch spielende Bewegung den »unermeßlichen Horizont des Seins, worin das Seiende überhaupt erscheinen kann«, offen zu halten. 15Safranski 2000 (Anm. 1), S. 358. Poesie als gelöst sein, frei sein und die Weite des Möglichen, die Fülle des Seins zu erfahren, ist ursprünglicher Bestandteil aller Religionen und Ziel jedes spirituellen Weges. Dass diese Tragweite von Spiel meistens eingeschränkt ist, liegt auf der Hand. Die vielen künstlichen überschaubaren Spiellandschaften und Kleinstparadiese können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Freie, Offene des Lebensraums vielleicht zu einem Problem geworden ist.
Lebensräume sind heute wie Kaufhäuser von vorneherein auf Durchquerung, Erreichbarkeit, Anschluss angelegt und so durchgreifenden globalen Strategien unterworfen, die den Raum homogenisieren. Anders als bei den Griechen, die diesen Raumbegriff nicht kannten und stattdessen konkrete, qualitativ verschiedene Orte und Sphären zu Lebensräumen machten, sind Orte und Landschaften heute von Raumstrukturen durchzogen, die alles in gleicher Weise erschließen, zugänglich, berechenbar und angleichbar machen. Autobahn bedeutet eben auch: planen, plan machen, planieren und Unebenheiten ausgleichen. Es muss nivelliert werden. Lassen wir unter den vielen kritischen Zeitgenossen, die das erkannt haben, Michel Houllebecq zu Wort kommen:
»Da es ihre Aufgabe ist, den zügigen Verkehr von Personen und Waren zu ermöglichen, neigt sie dazu, den Raum auf seine rein geometrische Dimension zu reduzieren. Dazu bestimmt, mit einer ununterbrochenen Abfolge textueller, visueller und illustrierter Botschaften bestückt zu werden, hat sie deren maximale Lesbarkeit zu gewährleisten (nur ein vollkommen transparenter Ort ist in der Lage, eine umfassende Weiterleitung von Informationen zu gewährleisten). Dem strengen Gesetz des Konsens unterworfen, beschränken sich die einzigen echten Botschaften, die sie sich herausnimmt, auf objektive Informationen. Der Inhalt jener immensen, die Autobahnen säumenden Straßenschilder etwa war Gegenstand einer gründlichen Vorstudie. Zahlreiche Umfragen wurden durchgeführt, um zu vermeiden, diese oder jene Benutzerkategorie vor den Kopf zu stoßen. Psychosoziologen sowie Spezialisten der Straßensicherheit wurden konsultiert: all das, um bei Hinweisschildern im Stil von ›Auxerre‹ oder ›Seenplatte‹ zu enden.«
Wir können mit Houllebecq davon ausgehen, dass wir heute nicht nur von einer Marktwirtschaft dominiert werden, sondern dass wir allgemein in einer Marktgesellschaft leben. Das heißt, der ganze Kulturraum, genannt Zivilisation, ist von Grund auf so programmiert, dass »sämtliche zwischenmenschlichen Beziehungen und auch sämtliche Beziehungen des Menschen zu seiner Umwelt über ein Zahlenkalkül vermittelt werden, bei dem die Attraktivität, die Neuheit und das Preis-Leistungs-Verhältnis zum Tragen kommt« 16Michel Houellebecq, Die Welt als Supermarkt, Köln 1999, S. 44.. Die Welt als Supermarkt also, Natur im Fokus von Technik, Tourismus, Rohstoffgewinnung und der Erhaltung und Steigerung der Zivilisation. Diese oft vorgetragene Kritik ist Walter Niedermayr bekannt. Aber er dreht das Verfahren um. Er konstatiert nicht einfach die Verletzungen der Berge, sondern er zeigt die Empfindlichkeit selbst, und dadurch wird man gerade nicht aggressiv und wütend auf andere, wie das oft bei Gegnern aller Art der Fall ist, sondern fängt bei sich selbst an – einfach weil man die Einsicht hat.
Zugleich setzt Niedermayr ein Gegengewicht. Denn seine Bilder lassen erkennen, dass dem Zubereiteten, Gekochten und Vorgekauten unserer Zivilisation etwas Raues, Rohes, Offenes zugrunde liegt. In den Bildern der Rohbauten sieht man, dass das Rohe bald verdeckt sein wird zugunsten einer kulturell aktualen Oberfläche. Der Blick des Künstlers ist dem Zustand aber vorausgeeilt, indem er dem tragenden Untergrund dieselbe Aufmerksamkeit schenkt wie der Oberfläche des Fertigen. Das verbindet ihn mit zeitgenössischen Architekten wie beispielsweise Tadao Ando, dessen Architektur den Prozess der Herstellung nicht wie üblich vergessen macht. Es wird sicher in Zukunft eine neue Ästhetik geben, die das Rohe der Herstellung zulassen kann. Niedermayrs Bilder der Rohbauten zeigen, was zu den Grundlagen der Zivilisation heute gehört. Wände sind durchlöchert, mit Schächten und Kabeln durchzogen, um sie zu vernetzen und zu verschalten, mit Energie zu versorgen, die von weit her kommt, mit Strom, Gas, Fernwärme und einer Menge Daten und Informationen. Aber man kann zugleich auch etwas sehr Archaisches sehen. Wie eine Rückkehr zu den Anfängen des Bauens und Wohnens sieht man ein Bauen in Schichten, Stein auf Stein mit offenen Stellen für Durchgang und Durchblick. Es hat dies alles eine eigene Poesie und tiefe Aussage und zeigt Niedermayrs Stärke, Schönheit auch da zu entdecken, wo normalerweise Unachtsamkeit herrscht. Später wird die Fläche kommen und alles zudecken. Wie die Schneedecken in der Landschaft. Und der Putz eines neu gebauten Gebäudes wird erscheinen wie Sahne auf einer rohen, harten Wirklichkeit.
Veröffentlicht in der Monographie: Zivile Operationen
1 Diese Projektion entstand im Rahmen eines Projektes der Künstlergruppe Calc (www.calcaxy.com).
2 Theodor Adorno/ Max Horkheimer, in: Rüdiger Safranski, Nietzsche. Biographie seines Denkens, München 2000, S. 360.
3 Eine ausgezeichnete Untersuchung zu diesem Phänomen bietet Georges Didi-Huberman, Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999.
4 Vgl. Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München 1994.
5 Gernot Böhme, Theorie des Bildes, München 1999, S. 108.
6 Heinrich Rombach, Der kommende Gott. Hermetik – eine neue Weltsicht, Freiburg 1991, S. 124.
7 Hajo Düchting, Cézanne, Köln 1989, S. 58 f.
8 Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt a. M. 1997, S. 59.
9 Safranski 2000 (Anm. 1), S. 362.
10 Heinrich Rombach, Strukturanthropologie, Freiburg/München 1987, S. 394 f.
11 Paul Virilio, »Fahrzeug«, in: Karlheinz Barck (Hrsg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 67.
12 Richard Sennett, »Der Tastsinn«, in: Ute Brandes (Hrsg.), Der Sinn der Sinne, Göttingen 1998, S. 484.
13 Vgl. Helga Peskoller, Extrem, Wien/Köln/Weimar 2001.
14 Gemeint ist hier Robert Schauer, von dessen »Expeditionen« ich in der Süddeutschen Zeitung vom 7.10.2002 las.
15 Safranski 2000 (Anm. 1), S. 358.
16 Michel Houellebecq, Die Welt als Supermarkt, Köln 1999, S. 44.