• Schindler, Regula — Die bleichen Berge. Eine postmoderne Geognostik 1995

    Walter Niedermayr, Buch Ed. Raetia, Bozen 1993. Ausstellung im Museum für Gestaltung, Zürich 1994.

    „Räumlichkeit mag die Projektion der Ausdehnung des psychischen Apparats sein. (…) Psyche ist ausgedehnt, weiß nichts davon.“ 1Sigmund Freund, 22.8.38, Ergebnisse, Ideen, Probleme, GW, Schriften aus dem Nachlaß

    „Ich ist nicht bloß dieses punktförmige Wesen am geometralen Punkt, von dem aus sich die Perspektive erfassen läßt. Gewiß, das Bild zeichnet sich ab am Grund meines Auges. Aber ich, ich bin in diesem Bild.“ 2Jaques Lacan, 1964, Les quatres concepts fondamentaux, chap. VIII, p. 89, Uebers. R.S.

    Lieber Walter Niedermayr,

    hier und da, seltern, trifft man auf Bilder, die man seit jeher zu kennen meint 3Walter Niedermayr: Die bleichen Berge, Ausstellung Museum für Gestaltung Zürich, 1994, obwohl man sie nie gesehen haben kann. Diese déjà-vu-Erfahrung läßt vorerst sprachlos und stupid; es gibt nichts Gscheiteres dazu zu sagen als so ist es, so schats aus, denn ich sehe ja bloß, was ich immer schon gesehen habe; wobei dieses immer- schon eben auch ein erstmals ist –erstmals sehe ich die Berge so, wie ich sie immer schon gesehen habe. Wer ist denn bloß das ich dieses immerschon, da ich Ihre „bleichen Berge“ eben erst zu Gesicht bekommen habe? Vielleicht braucht es die Reise durch Ihre bleichen Berge hindurch, um dem mittlerweile allzu berühmten „Ich ist ein Anderer“ frisch auf die Spur zu kommen.

    Das Eigenartige Ihrer Bilder ist, daß sie eben gerade kein „ich sehe das so“ übermitteln: Ihr Blick, Ihre Sicht, Ihre Aussage verschwindet hinter und zwischen den Bildern, dergestalt, daß der Betrachter seinerseits die Sicht verliert und zum Angeblickten wird: déjà-vu(e) bin ich, immer schon gefangen im Blick dieser bleichen Berge: so schauts aus verliert sich im so schauts mich an. Solange ich drin ist, fällt es schwer, über diese Bilder zu sprechen; es ist vorerst leichter, zu sagen, was sie nicht sind: weder schön noch häßlich, weder verklärend noch anklagend, weder erhaben noch komisch: vielmehr so, wie´s eben ist. Aber dabei kann ichs wohl nicht bleibenlassen für Linz.

    Die Bilder zeigen durchaus Vorhandenes, und vernünftigerweise läßt sich sagen, es handle sich um eine Dokumentatin des zum Freizeitpark mutierten Dolomitengebirges im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert. Oder handelt es sich um eine „mediale Konstruktion“? 4C. Aigner, Begleittext in: Walter Niedermayr, Die bleichen Berge - I Montai Pallidi, Ed. Raetia, Bozen 1993 Das Verhältnis Dokumentation-Konstruktion ist hier kein Ausschlußverhältnis, auch kein Verhältnis sowohl-als auch, vielmehr, denke ich, ein gerade-weil: gerade weil diese Bilder „zunächst und vor allem auf sich selbst und auf andere Bilder verweisen – hinzuzufügen ist, auf die Geschichte der Bergphotographie und – malerei – gerade weil sie sich subtiler intra-und interreferenzieller Kunstgriffe bedienen, ist die Bestandsaufnahme so präzise – die Bestandsaufnahme wovon? einer äußeren oder inneren Befindlichkeit? ich würde sagen: der Konstruktion von Wirklichkeit über sinnfremde Zeichen; über die Furchen und Pfosten, Risse und Sprünge „im Gefüge einer Landschaft nicht weniger als in jenem der Wahrnehmung.“ 5M. Heller, Informationsblatt zur Ausstellung, Museum für Gestaltung Zürich, 1994

    Die Wirklichkeit, die Sie zeigen, ist eine fragile und prekäre Wirklichkeit insofern, als Sie die phantasmatische, im gleichen Zug realitätsstiftende Bedeutung aussparen oder unterlaufen; Sie zeigen bloß das signifikante Gerüst einer möglichen Realität: Felszacken, Schründe, Geröllhalden, Straßen, Grasnaben, Schriftzüge, Pfosten, Zäune. Das bedeutet für sich genommen gar nichts; da der vernetzende Blick sofort und seit jeher Bedeutung schafft, braucht es allerdings viel Kunst, diese Zeichen aus bekannten Zusammenhängen herauszuschälen und wiederum sozusagen nackt zu zeigen, nackt und fremd.

    Sie bedienen sich hierzu technischer Kunstgriffe der Aufnahme und der Montage und erläutern mir in Ihrem Antwortbrief: „Nicht der konkrete Realitätsbezug des Einzelfotos ist im Ergebnis entscheidend, sondern die durch die bewußte Anordnung der Fotos erreichbare inhaltliche und formale Struktur des Ganzen ist mir wichtig. Durch Zusammenfügen relativieren sich die Bilder zueinander, werden gleichwertig im Gesamtbild und verlieren so den platten Abbildungscharakter; zusätzlich tragen die Farbbilder in den Sequenzen zu einer Aufhebung, Relativierung des realistischen, dokumentarischen Charakters der Schwarzweißbilder bei (…), durch das Zusammenfügen von Schwarzweiß- und Farbbildern wird der Grat von Dokument und Fiktion verengt.“

    In meiner Übersetzung heißt das: über die Wiederholung den Kult des Einzelbilds brechen – und damit, oder damit verbunden, den Kult des Einzelblicks – „als wäre der Fotograf hinter dem mechanischen Auge verschwunden“, war Ihre Antwort. Womit deutlich wird, daß es um anderes geht als um das Relativieren von Sichtweisen im Sinn eines anything goes: vielmehr erhellt sich mir nun anhand Ihrer Arbeit der mir bis anhin dunkel gebliebene Satz Lacans, das einzig Seriöse sei das Serielle.

    Wenn das Einzelbild einen Bedeutungseffekt produziert, etwa den der verschandelten Bergwelt, hebt die Veschiebung des Blickwinkel oder Ausschnitts im nächsten Bild die Bedeutung „verschandelte Bergwelt“ teilweise auf: nun erscheint dieselbe Landschaft, allenfalls durch subtile Farbgebung unterstützt, als möglicherweise lieblich. Oder bloß trostlos? Und so weiter: aus den Verschiebungen und Überlappungen des Sujets in den Bildsequenzen ergibt sich ein ein Geflirr von rück- und vorwirkenden Bedeutungs-Interferenzen, die, wie Sie sagen, „die Bildrealität erst einmal dekonstruieren, um sie wieder stärker ins Bewusstsein zu heben“. Bewußt wird, füge ich bei, die Sucht, Bedeutung und damit Realität zu fixieren und sei’s über den noch verbliebenen Weg der ästhetischen Wertung: der subtile Dekonstruktionsimpuls Ihrer Bilder macht auch davor nicht Halt.

    Sie bedienen sich der Relativierung von Bildrealitäten/Bedeutungen, behaupte ich, um das freizulegen, was Bedeutung konstituiert; um ihr signifikantes Gerüst herauszuschälen, und damit nicht mehr und nicht weniger zu zeigen als ein so ist´s, aisthesis pur, vor allen mentalen Synthesen.

    Ihre Arbeit stellt mir unter anderem neu die Frage, wieso die Zeit der konventionell schönen und/oder konventionell erhabenen Bergdarstellungen abgelaufen ist, zumindest in der Kunst; denn Menschen, die sich an diesen Gebirgsmassen unter Einsatz von Leib und Leben messen und ergötzen, gibt es nach wie vor und mehr als je zuvor, um die technischen Mittel zur Erfassung der Berge und ihrer Begeher sind perfekter denn je. Hier liegt auch eine bekannte Antwort: was dank des technischen Fortschritts fast jeder tun und jeder knipsen kann, ist einer Elite meist Anlaß zu ironischer Distanzierung, wenn nicht zu Kassandrarufen über das Verschwinden von allem und jedem, insbesondere des Menchen in der Massenkultur.

    Ihre Antwort ist sehr viel subtiler, läßt die Frage weitgehend offen und erlaubt damit, sie neu zu stellen. Sie verzichten auf den seinerseits zum Cliché verkommenen Sport und Schmäh über die Freizeit-Bergschwärmerei und -knipserei; Sie verzichten auf die diversen Varianten einer Anklage, die sich auch in der Kassandra-Version noch darin gefällt, das Ganze – sei’s der „Natur“, sei´s des „Humanen“ – für das Wahre zu halten. Sie enthalten sich jeder Wertung, sparen den Glanz und das Elend der Berge und ihrer Begehr gleichermassen aus: Sie registrieren Hinter- und Vordergrund, Natur- und Kulturschrammen, Berg- und Baukörper sowie deren vielfältige Interferenzen derart unparteiisch, daß sich erneut fragen läßt: was wollen, was suchen diese farbigen Freizeitler – Sie und ich – im Gebirge? Was treibt sie hin, was glauben sie dort zu sehen, zu begreifen? Wozu der ganze Aufwand?

    Der menschliche Blick zeigt sich hier, wo er fast jeder Funktion verlustig gegangen ist – der existentiellen der Überlebenssicherung, der heroischen der Herausfoderung, der ordnungsstiftendend des Registrierens dessen, was ist – in seiner ebenso vergeblichen wie unausrottbaren Begehrlichkeit – wonach? nach dem verlorenen Überblick? nach dem quasi-religiösen Schauder? nach einem sichtbaren Beweis dafür, daß es die Schöpfung auch ohne den Schöpfer noch gibt?

    Indem Sie ein vis-à-vis mit diesem postmodernen Bergvolk weitgehend aussparen, vermeiden Sie, es der Lächerlichkeit preiszugeben. Sie zeigen uns, was diese Leute sehen, nicht aber, wie sie gucken und glotzen. Sie gestehen dem hemdsärmeligen Dicken auf dem Betonbunkerdach des Rifugio Serauta, der einem Liebespaar, anderen menschlichen Betriebsamkeiten und uns den Rücken kehrt, einen der ganz seltenen schauerlich-schönen Panoramablicke zu. Sekundiert und allenfalls übertroffen wird dieser Panoramablick allerdings vom Doppelblid Rifugio Auronzo-La Cianpedale; die Betrachter/Betrachteten des zackig-erhabenen Granitmassivs in mildem Gegenlicht sind hier bloß noch vereinzelte parkierte Personenwagen und ins Gras geschnittene Schriftzüge. Meist aber ist der Panoramablick ohnehin verstellt oder verschnitten: bunte Strichwesen, unisex, kraxeln und lagern gruppenweise in horizontlosen, verschrundeten und überpfosteten Hängen.

    Ankläge an die postmodernen Mythen des „Verschwindens des Sichtbaren“ beziehungsweise des „Verschwindens des Menschen“ gibt es gewiß; und Verweise aufs romantische Bildererbe, per se und als Boden besagter Mythen. Eigenartig und erfrischend ist, daß Sie eine verfehlte Begegnung (Mensch-Gebirge), einen Verlust (der Funktionen des Blicks) dokumentieren, ohne dazu eine Rethorik des Tragischen, Komischen oder Grotesken zu bemühen, die stets noch der wahren Begegnung, dem guten Objekt, dem vermeintlich Verlorenen eben verhaftet ist.

    Ihre bleichen Berge erlebe ich als eine Art Niemandsland zwischen den ausgelaugten mentalen Schemata Technik-Natur, Verstand-Gefühl, konstruiert-spontan und soweiter. Ihre Oberflächen-aisthesis läßt den Betrachter die verletzliche und gebrechliche Einrichtung der Welt geradezu physisch nachvollziehen. Ich vermute, daß Sie ein Berggänger sind; jedenfalls lieben Sie, was Sie zu sehen geben, und wissen schon längst, daß diese Liebe unter anderem ein nachträgliches Produkt des technischen Blicks und der technischen Geste ist: kein Anlaß mehr für den moralischen Triumph des Subjekts der Vernunft, noch für seinen bombastischen Katzenjammer.

    Ihr Registrieren der menschlich-technischen Spuren, Furchen und Flecken im Gebirge unterstreicht, über die Verletzlichkeit der Gras- und Steinhaut, paradoxerweise die Unverfügbarkeit dieser Bergleiber: in ihrem Licht erscheinen die Freizeitmenschen als ephemere Ameisen und vielleicht das Lebendige überhaupt als ultrakurzes Intermezzo im Prozeß der Versteinerung.

    „Der Anblick dieser ewig todten Massen“, so Hegel, „gab mir nichts als die einförmige und in die Länge langweilige Vorstellung: es ist so.“ 6zit. nach W. Fetz, Begleittext. Womit ich wieder beim Anfang wäre: „es ist so“ mag für Hegel eine langweilige (oder furchtbare?) Vorstellung gewesen sein; in der heutigen Zeit braucht es jedenfalls viel, um ein „es ist so“ über die Bühne zu bringen: anstelle der Jagd nach der tyche, der noch-nie-dagewesenen Begegnung, des unerhörten Medien-Ereignisses, das geduldige Registrieren des automaton 7tyche, automaton, siehe J. Lacan, Les quates concepts fondamentaux, 1964, chap. V., der Wiederkehr von Zeichen, auch und gerade jener Zeichen, die von Menschen ersonnene Maschinen hinterlassen haben; deutungsfern, botschaftslos, opak wie jene der Lithosphäre.

    Ihre es-ist-so-Bilder verknüpfen sich mir über die Jahrhunderte hinweg mit den Zeichnungen und Radierungen eines Ururahnen, Konrad Escher von der Linth. Er nannte das, was er trieb, das wissenschaftliche Aufzeichnen der Gesteinsformationen der damals noch weitgehend unbegangenen und unerforschten Schweizer Alpen, Geognostik: der Begriff der Geologie verstieß noch gegen die Gottesfurcht. Man hat Escher vor wenigen Jahrzehnten wiederentdeckt und als Künstler wider Willen gewürdigt. Vielleicht ist es erst jetzt wieder möglich, ein es-ist-so zu zeigen: nach Ablauf der Zeit jener mentalen Vereinnahmung der Berge als Landschaft, die im 18. Jahrhundert Eschers eben erst eingesetzt hatte. Das Gebirge war ihm noch fremd und rätselhaft, Grund genug, sich ganz in den Dienst des forschenden Registrierens dieses Fremdkörpers zu stellen. Was er festhielt, war Un-Landschaft auf der Kippe zur Landschaft; das macht seine Kunst, die Wissenschaft sein wollte, für heutige Augen schön. Kippt Landschaft nun zurück in Un-Landschaft, in´s Menschenfremdeste? Ihre postmoderne Geognostik legt es nahe: mit dem Unterschied, daß das Menschenfremdeste, nachdem es als Landschaft vereinnahmt worden ist, sich nun als inneres Fremdland wieder äußert; der vormoderne Blick ist nicht mehr zu haben.

    Ihre wie auch Eschers Geognostik will, so scheint es mir, wissen, was ist; was ein Staunen voraussetzt darüber, daß etwas ist; das Staunen von Naiven, Kindern, Erstbegehern eines Terrains, und, da sich Naivität nicht simulieren läßt, jener, die sich Kunstgriffe erwerben und eine Reise um die Welt nicht scheuen, um einen Blick aus jenem Paradies festzuhalten, das nach Kleist allenfalls von hinten noch offen ist; denn schließlich sind auch Ihre Bilder, die das, was man häßlich und banal findet, still registrieren, wieder eigenartig schön („sublime“, würde Lyotard sagen; das deutsche „erhaben“ scheint mir, trotz den Angstrengungen zu seiner Rehabilitierung im Sinn eines in sich pluralen, in sich gebrochenen Verhältnisses zur Wirklichkeit, ohne weitschweifige Ausführungen zu seiner Begriffgeschichte hier allzu mißverständlich) 8; schön nicht im Sinn eines gefälligen, harmonischen Ganzen, oder, moderner, der guten Form, schön, weil gelingt, was Sie folgendermaßen umschrieben haben: „die Vorstellung, dem Abgebildteten gerecht zu werden, es in keine Richtung kippen zu lassen, ihm dadurch seine Würde zu erhalten“.

    Meine Absicht, den Briefwechsel mit Walter Niedermayr zwar überarbeitet, dennoch als solchen wiederzugeben, ist mit der Umschreibung des ersten Briefs hinfällig geworden: die Überarbeitung ist, wies eben so geht beim Schreiben, angeschwollen, genährt von vielem, was er mir mittlerweile geschrieben und geschickt hatte. Vieles ist nicht mehr auseinanderzuhalten, zumal die freudige Überraschung dieses Briefwechsels ein sich wiederholendes vorauseilendes Erraten noch unausgesprochener Präokkupationen des jeweils andern war.

    „Wenn Sie schreiben“, schrieb er mir, „daß die bleichen Berge als Niemandsland erleben, so sprechen Sie unbewußt auch meine neueren Arbeiten an, die im konkreten Sinne auch Niemandsland – Nicht-Orte, wie ich sie nenne, sind, und die eine Weiterführung und Weiterentwicklung meiner vorherigen Arbeit werden sollen.“

    „Ich arbeite gern in Landschaften und an Orten, die ich kenne oder an denen ich mich länger aufhalten kann. Es fällt mir so leichter, auf Distanz zu gehen. Eine Landschaft, einen Ort, der für mich neu ist, sehe/erkunde ich aus der Nähe, um dann zu einem späteren Zeitpunkt die nötige Entfernung zu gewinnen. Aus dem Wissen um die Beschaffenheit des unmittelbar Sichtbaren ermöglicht sich mir eine Distanzgewinnung, und es gelingt mir, eine neutrale Haltung einzunehmen, die extrem ausgedrückt derart sein sollte, als wäre der Fotograf hinter der Kamera verschwunden.“ Damit griff W. N. etwas auf, was mir in vorerst noch vager Form im Kopf herumspukte: die Dialektik, wenn es eine ist, des Bekannten/Fremden, des Heimlich/Unheimlichen. Dem Brief lag etwas bei, was nicht nur neue Aspekte eröffnete, vielmehr mich zu einer Art Neuanfang zwang: die ladinische Sage „Die bleichen Berge“. Hier ist sie:

    Wo die Alpen gegen Mittag ausgehen, da war einmal ein Reich, das von den Schneebergen bis in die heiße Niederung herabreichte, und die vielen Berge hatten große, schwarze Wälder und noch viel schwärzere Felsen. Die Kronprinzessin aber war eine Tochter des Mondkönigs, und weil auf dem Monde alles hell und leuchtend ist, gefiel es der Prinzessin in dem Alpenreiche nicht, und sie wurde schwermütig und krank. Also kam eines Tages der Mondkönig und nahm seine Tochter mit sich auf den Mond, wo die Berge und die Blumen weiß sind, und da gesundete die Prinzessin wieder. Allein der Kronprinz unten im Alpenreiche trauerte um sie und sann auf Mittel und Wege, sein Reich so umzugestalten, daß die Mondtochter darin wohnen und glücklich werden könne. Nach langen vergeblichen Bemühungen schloß er einen Vertrag mit den Zwergen, und diese mußten ihm bei Nacht das Mondlicht spinnen und die Felsen seiner Berge mit Mondlicht überziehen. So wurden die finsteren Berge des Alpenreiches bleich, und ihre Wände und Gipfel schimmerten verklärend in mildem Glanz über den Tälern. Nun holte der Kronprinz seine Gemahlin wieder zurück und zeigte ihr die weiße Pracht, die er für sie bereitet hatte. Die Prinzessin aber jubelte und wurde nie wieder von Heimweh oder Traurigkeit befallen. (Kurzfassung der Sage „Die bleichen Berge“, erschienen in „Gardaseepost“, Nr. 37, 11.9.1909)

    Lieber W.N. (zum zweitenmal),

    daß Ihr Titel – und es war der Titel, der mich auf Ihre Ausstellung aufmerksam werden ließ – der Sage von der heimwehkranken Mondprinzessin entnommen ist, bestätigt den allerersten Eindruck, den mir Ihr Buch gemacht hat: den eines wundersam melancholischen Märchenbuchs sozusagen trotz allem.

    Schön wärs, diese Sage als einzigen kontrapunktisch-begleitenden Kommentar Ihrer Arbeit beizufügen… Übrigens: wie sind Sie daraufgekommen, sich als Fotograf verschwinden zu lassen?…

    Daß dieses Verschwinden des Fotografen, des eigenen Blicks, hinter dem mechanischen Auge eine lange Bekanntschaft mit der jeweiligen Gegend voraussetzt, leuchtet unmittelbar ein, eröffnet aber, wenn man darüber nachdenkt, eine Reihe von Paradoxien: des Eigenen/Fremden, des Heimlichen/Unheimlichen. Als müßte man in der Aneignung sehr weit gehen, um das Fremde, Unheimliche im Eigenen, Heimatlichen zu entdecken. Es scheint mir, als hätten Sie eben jenen Grenz- oder Umschlagbereich erfaßt, der, wie bei einem Vexierbild, das Heimliche und im nächsten Augenblick das Unheimliche sehen läßt, wobei unterscheidbar bleibt, ob man sich hier oder dort befindet: nicht mehr hier, noch nicht dort, ein anderer Name vielleicht für Niemandsland. Nun fällt mir auch die Sage wieder ein: dieses in mildem Glanz schimmernde Reich, wo man nie mehr von Heimweh befallen wird – ist es nicht, wenn noch nicht das Reich der Toten, nicht mehr das Reich der Lebendigen? Diese „weiße Pracht“ der Mondheimat, des Mondvaters, die der Kronprinz per Zwergenzauber seiner Gemahlin bereitet, ist eine unheimlichschöne Gabe.

    Die Quelle des Umschlags ins Unheimliche ist nach Freud die Wiederkehr eines verdrängten Kindheitswunsches; gäbe es einen Kinderwunsch nach Entlebendigung, Endifferenzierung, nach dem Niemandsland? Gewiß.

    „Das Unheimliche ist der Eingang zur alten Heimat des Menschenkinds, zur Örtlichkeit, in der jeder einmal und zuerst geweilt hat. „Liebe ist Heimweh“, behauptet ein Scherzwort“ – ein Kommentar zur ladinischen Sage? nein, Freud:

    „und wenn der Träumer von einer Örtlichkeit oder Landschaft noch im Traume denkt: das ist mir bekannt, da war ich schon einmal, so darf die Deutung dafür das Genitale oder den Leib der Mutter einsetzen. Die Vorsilbe „un“ an diesem Worte ist aber die Marke der Verdrängung.“ 9 Freud hat am Glauben, die Wahrheit des Unheimlichen ganz-sagen zu können, noch mehrheitlich festgehalten, er war ein Zeitgenosse Kubins.

    Sie haben, wie der Kronprinz der Sage, die finsteren Berge bleich werden lassen, und auch Ihre Wände und Gipfel schimmern in mildem, schattenlosem Licht; dank der Bleichung und der Weichzeichnung der Konturen lassen sich die Sommer- kaum von den Winterbildern unterscheiden. Sie legen, wie die Sage, über das Aufklaffen des Leibs einen Schleier, der den Unterschied, alle Unterschiede, zwar ahnen und durchscheinen läßt, nicht aber entblößt: eine dünne Schneedecke, ein zartes Grün, das die Verletzlichkeit der schorfig durchscheinenden Erdkruste seltsam spürbar macht.

    Dieser halbtransparente Schleier liegt wie ein barmherziger Mantel des Noah über den Dingen. Mi-dire 10, halbsagen, nannte der späte Lacan ein Reden, das zwischen den Zeilen zu hören gibt; ein Reden, das darauf verzichtet, die Sünden und Gebrechen der Väter, die Angst und den Schrecken der Söhne und Töchter an’s grelle Licht zu zerren und herauszuschreien, als ließe sich die Wahrheit demonstrieren und beweisen. Auch Ihre Art des behutsamen Nachzeichnens ist ein mi-dire; das sich, so scheint es mir, zur expressionistischen Wahrheitsgeste eines Kubin gleich verhält wie das karge und verhüllend-zeigende Reden Lacans in seinem letzten Dezennium zur wissenschaftlichen Wahrheitsgeste Freuds.

    Und ob ich, zum Schluß, mehr weiß über die, die Ihre bleichen Berge immer schon gesehen hatte? Bloß das, was ich immer schon wußte von Einschnitten und -brüchen, die erstmals in der Kindheit und dann in steter Wiederkehr, im Blick und Bann bleicher Berge stattfanden: meiner, der Graubündner Berge. Was sich nicht fassen läßt – tyche, die verfehlte Begegnung – springt auf die nächstbesten Zeichen über: Furchen, Steine, Felszacken, Skiliftpfosten, Touristenmüll, wartet auf die barmherzig nivellierende Schneedecke, und kehrt, automaton, mit diesen Zeichen verläßlich wieder.

    Aus dem phantasmatischen déjà-vu(e) ist immerhin ein gemeinsames Projekt entstanden. „Denn der Doppelgänger war ursprünglich eine Versicherung gegen den Untergang des Ichs, eine „energische Dementierurig der Macht des Todes“ (0.Rank), und wahrscheinlich war die „unsterbliche Seele“ der erste Doppelgänger des Leibes.“ 11S. Freud, a.s.O. Diese Seele, so scheint es, hat sich weitgehend fortgestohlen aus den vis-à-vis-Phantomen des Humanen und sich zurückgezogen ins radikal Andere, in ein Draußen, dessen Blick man hie und da blitzartig wahrnimmt: wenige vermögen ihn zu registrieren.

     

    Veröffentlicht in der Publikation: Phantasma und Phantome Gestalten des Unheimlichen in Kunst und Psychoanalyse nach Lacan, Hrsg: Martin Sturm, Georg Christoph Tholen und Rainer Zendron für OK Offenes Kulturhaus OÖ, 1995 ISBN 3-85307-005-1