• Mextorf, Lars — Das Medium ist nur das Mittel zum Zweck 2007

    Ein Gespräch mit Lars Mextorf

     

    Deine frühesten Arbeiten gehören zur Werkreihe der Alpinen Landschaften und sind in Südtirol entstanden, in der Gegend, in der du aufgewachsen bist. Was bedeutet für dich der Begriff „Heimat“?

    Ich habe mich mit dieser Landschaft beschäftigt, weil das die Landschaft war, die ich von Kind auf kannte. Als elf- oder zwölfjähriges Kind habe ich die Landschaft nicht so besetzt erlebt. Es waren weniger Leute dort, es war weniger Tourismus. Und 20 Jahre später hat das dann ganz anders ausgeschaut. So wie ich das als Kind erlebt habe, hatte es eine andere Nähe, auch eine andere Intimität. Man traf nicht so viele Leute. Und wenn man dann Leute traf, sprach man mit denen wahrscheinlich auch. Das ist ein anderer Umgang mit Landschaft, der daraus resultiert, dass die weniger starke Besetzung anderes möglich macht, anderes öffnet. Wenn mir hingegen dort Unmengen von Menschen begegnen, ist das wie in einer Fußgängerzone in der Stadt, und das sind dann andere menschliche Konstellationen und Bezüge. Diese Besetzung von Landschaft empfand ich als eine Möglichkeit für einen Ansatz zum Arbeiten. Ich hatte da ein unmittelbares Feld, mit dem ich umgehen konnte.

    Ich finde es bemerkenswert, dass du auf deine eigene Heimat einen derart nüchternen Blick hast und frage mich, ob dieser Blick überhaupt erst möglich wurde durch eine Verlusterfahrung, die den Bezug zur vertrauten Umgebung verändert hat. War das der Fall?

    Vielleicht kann man das als Verlust sehen, wenn man entdeckt, dass die Landschaft, die man als Kind kennengelernt hat, zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr das ist, was sie vorher war. Das ist schon auch ein Verlust. Und dann gibt es natürlich auch Versuche, sich zu distanzieren von vielem, was damit zu tun hat. Ich denke, dass man die Distanz dann auch braucht, um nicht zu stark in eine moralisch-wertende Position zu verfallen.

    Deine Arbeiten haben eine charakteristische Blässe, die teilweise bis zum reinen Weiß geht. Was bedeutet die Farbe Weiß für dich?

    „Weiß ist eine Nicht-Farbe, die mit Neutralität und mit Reduktion zu tun hat. Beim Vergrößerungsprozeß kann ich die Helligkeit so dosieren, daß ich damit subjektiv reines Weiß erreiche. Über dieses relativ reine Weiß schaffe ich dann wiederum eine Klärung der anderen Farben zueinander und somit eine gewisse Farbneutralität.“

    Du hast in einem Gespräch erwähnt, dass du Hiroshi Sugimotos Langzeitaufnahmen von Kinosälen sehr magst. Durch die Projektion der Einzelbilder über die gesamte Zeitdauer des Films ist in der abbildlosen Leinwand jedes einzelne Bild in dem Weiß aufgehoben. Könnte man deine Arbeiten auch in einem ähnlichen Sinne verstehen, dass das Weiß für eine Potentialität steht?

    Mir gefällt diese Vorstellung sehr gut, dass alles, was auf die Leinwand projiziert wird, sich in diesem Weiß sammelt und im Nichts sich auflöst. Das finde ich einen sehr präzisen Gedanken, der mir Einiges bedeutet, weil damit das Sichtbarmachen von Bildern relativiert wird: Was bleibt übrig, was bedeutet es, Bilder zu sehen? Welche Realität haben Bilder? Welchen Bezug haben wir zur Realität?

    Also gäbe es hier zwei Aspekte, zum einen eine gewisse Form der Selbstreflexivität und zum anderen eine Aufwertung des Betrachters, weil er die Bilder imaginieren muss, die er nicht sieht.

    Was wir an Bildern erkennen hat sehr stark damit zu tun, was wir in unserem Speicher mit uns tragen. Darüber definieren sich die Bilder.

    Und das ist dann eine Möglichkeit, sie zu aktivieren? Man setzt nichts vor, sondern lässt es als Leerstelle offen.

    Ja.

    Du hast im Zusammenhang mit deinen Aufnahmen vom Krankenhausbetrieb in einem Interview von der Verdinglichung des Menschen gesprochen. Dieser fungiere für die dort Tätigen als Gegenstand, der transportiert und verschoben werde. In den Skigebieten fallen bei den technischen Einrichtungen erstaunliche Parallelen dazu auf. Die Skilifte sind mit Hinweisen auf ihre „hohe Förderleistung“ gekennzeichnet, und auch als Wintersportler wird man eher wie effizient zu transportierendes Stückgut behandelt. Ich habe den Eindruck, dass sich trotz der augenscheinlichen Differenzen viele Themen der späteren Werkreihen auf das zurückführen lassen, was du bei den Alpinen Landschaften entwickelt hast.

    Ja, das könnte sein. Es gibt natürlich schon Nuancen. Im Alpinen wird man sehr freundlich und fürsorglich betreut. Im Krankenhaus hingegen ist das unter Umständen nicht immer der Fall, obwohl ich glaube auch im Krankenhaus wird das sehr professionell gemacht. Die Bedingungen im Krankenhaus sind eben so, dass sehr vieles maschinell abläuft und der Mensch als Person, als Psyche, relativ ausgeschaltet ist. Je mehr die Technik dort einschreitet, desto befremdender ist das Geschehen. Er wird so behandelt wie ein Gegenstand, der von einem Ort zum anderen auf sehr professionelle Art und Weise transportiert wird. Ob das für den Menschen gut ist, ist dann die andere Frage.

    Das funktionale Verhältnis, das der alpine Tourist zur Umgebung hat, weil er seine Erwartungen bestätigt sehen möchte, findet sich hier in anderer Form zwischen Krankenhausbediensteten und Patient wieder.

    Die Areale, in denen sich Touristen bewegen, sind abgegrenzt. Sobald man sich in diesem Areal bewegt, ist man in einem abgesicherten Terrain, schreitet man darüber hinaus, ist man in der Gefahrenzone. Man kann dann natürlich Analogien herstellen zu Autobahnen, zu Straßen, die auch mit Leitsystemen, Abgrenzungen und Sicherheitszonen arbeiten. Da gibt es Ähnlichkeiten.

    Bei deinen Arbeiten kommen verschiedene Dimensionen zusammen. Man kann sie als sehr ästhetisch wahrnehmen aber trotzdem sind sie keine bloße Affirmation des Sichtbaren. Es ist deutlich eine Distanz zu erkennen zu dem, was du zeigst.

    Ich suche für mich eine neutrale Position, und dann kann das verschiedene Leute auf verschiedene Art ansprechen, eine Mehrdeutigkeit zu schaffen fände ich gut. Aber ich möchte nicht als Öko oder politischer Künstler agieren. Mir geht es schon um eine neutrale Position. Ich glaube das wird auch sichtbar in meinen Arbeiten; der Versuch, eine Neutralität und Distanz herzustellen. Auf den ersten Blick gibt es den ästhetischen Moment, den schönen Schein, beim zweiten Blick kann man die Brüche zwischen den Bildern und in den Bildern entdecken und in einem dritten Moment entdeckt man manchmal, dass das Ganze eine Bildkonstruktion, eine Fiktion ist. Ich denke aber die Arbeiten eignen sich letztlich nicht zum schnellen Bildkonsum.

    Aber allein die Auswahl des Themas weist doch schon eine bestimmte Position des Künstlers aus. Implizit ist doch eine kritisch-distanzierte Haltung zu dem, was sich verändert hat, noch sichtbar.

    Ja, das ist klar. Durch die Wahl dieser Landschaft ist eine gewisse kritische Auseinandersetzung damit notwendig, ich muss versuchen damit so umzugehen, dass ich dann doch noch eine Distanz dazu bekomme. Ich versuche es zumindest offenzulassen für jemanden, der es auf diese oder eine andere Weise für sich sehen kann. Ich will keine moralische Vorstellung produzieren.

    Deine künstlerische Arbeit führt dich in viele unterschiedliche, weit entfernte Gegenden der Welt. Was für ein Verhältnis hast du zum Reisen?

    Ich reise gerne, weil ich neugierig bin auf das mir Fremde.

    Worauf genau bist du neugierig?

    Ob das, was ich mache, andernorts noch anders auslotbar ist. Manchmal gibt es Möglichkeiten, die sich von der Topografie her ergeben, das Medium auch anders in der Landschaft einzusetzen. Aber das ist nicht sehr oft der Fall. Es gibt auch mit fremden Orten verbunden die Vorstellung für die eigene Arbeit neue Zugänge und Möglichkeiten zu finden, die sich durch andere kulturelle und sozialpolitische Kontexte ergeben können.

    Die Topografie wäre die Natur. Wie sieht es mit der Kultur und dem spezifischen des Kulturellen aus?

    Ich suche keine Naturlandschaft im reinen oder sogenannten reinen Zustand auf, denn den gibt es praktisch nicht mehr, dadurch, dass die Menschen schon nahezu überall waren. Ich suche Orte auf, wo Menschen sind, die in der Landschaft etwas machen, die sie besetzen und strukturieren. Aber ich suche keine Orte, wo es vordergründig keine Menschen gibt. Daraus könnte man schließen, dass es meistens nur mehr Kulturlandschaft gibt.

    Wenn die Menschen die Kultur repräsentieren, wäre die Frage, ob es noch so etwas wie eine spezifische Kultur gibt. Ich denke, das lässt sich nicht wirklich bestreiten. Insofern gilt die These, dass sich die unterschiedlichen Regionen der Welt immer stärker annähern und immer uniformer werden, vielleicht doch nur mit Einschränkungen.

    Kulturlandschaft ist Landschaft, die vom Menschen besetzt ist, mit der der Mensch einfach umgeht, in den verschiedensten Ausformungen. Und dann gibt es, in Anführungszeichen, die Naturlandschaft. Das wäre eigentlich die ursprüngliche Landschaft, wo Menschen nicht so präsent sind oder sie nicht besetzen. Wie gesagt, wir leben größtenteils in einer Kulturlandschaft. Auch der Amazonas ist schon besetzt. Es gibt praktisch keine Orte mehr, wo Menschen nicht waren. Also in dem Moment, in dem der Mensch in die Naturlandschaft eintritt, beginnt er sie zu gestalten. Es gibt immer die Vorstellung von Leuten, die sagen, meine Landschaften hätten etwas mit dem Erhabenen zu tun. Das sehe ich nicht so, weil ich denke, eine erhabene Landschaft hat nichts mit Besetzung zu tun. Erhabenheit hat mehr mit Leere zu tun, mit Nicht-Besetzung, mit Stille, mit Abgehobenheit und ich glaube nicht, dass man das heute grundsätzlich von den alpinen Landschaften bzw. von Landschaften sagen kann.

    Inwieweit ist aber das, was du um deine Arbeit herum erlebst an dem jeweiligen Ort ein Teil des Reizes, dort hinzufahren?

    Es ist interessant die jeweilige Kultur und ihre Ausformungen über Sprache, Tradition, Architektur mit allem, was eine Kultur ausmacht kennenzulernen. Und das unterscheidet sich nach wie vor von Ort zu Ort, von Kultur zu Kultur.

    Also ist die Uniformität noch nicht ganz so weit fortgeschritten, dass es beliebig wäre, an welchem Ort man sich befindet.

    Es gibt sicher noch Unterschiede. Wenn ich nach Japan fahre, ist das eine andere Kultur, ein anderer Umgang auch mit Landschaft, der für uns manchmal widersprüchlich erscheint. Ich erlebe, wie versucht wird, Natur zu bändigen oder auch wie man mit Pflanzen umgeht.

    Aber die Differenz wird ja in deinen Arbeiten eher ausgespart.

    Ich würde sagen, diese Gemeinsamkeiten, das sind oberflächliche Gemeinsamkeiten. Es gibt kulturell gewachsene Dinge und die unterscheiden sich von diesen oberflächlichen Gemeinsamkeiten, die nur struktureller Natur sind, weil es Lifte, Straßen usw. gibt, die in Europa ähnlich gebaut werden wie in Japan. Manchmal sind es sogar die gleichen Konzerne, die sie herstellen. Und das sind diese Uniformitäten, die dann entstehen, diese Leitsysteme. Es bewegt sich alles auf die gleiche Art und Weise. Aber das sind nicht die kulturell gewachsenen Dinge, die uns dann wieder unterscheiden von der japanischen oder amerikanischen Kultur. Die Frage ist, wieweit diese oberflächlichen Gemeinsamkeiten, die Uniformierungen unsere kulturellen, tiefer liegenden Möglichkeiten verändern.

    Es gibt also eine Art von technischer Rationalität, die dazu führt, dass man zu ähnlichen Lösungen kommt, und es gibt eine Kultur, die sich anders bestimmen lässt.

    Ja, eben das meine ich. Vielleicht sollten wir aufpassen, dass uns nicht irgendwann diese Oberfläche überrollt.

    Die meisten der Orte, die du für deine künstlerische Arbeit auswählst, wie Gefängnisse, Krankenhäuser, Autobahnen, aber auch die Alpinen Landschaften, sind dadurch gekennzeichnet, dass sie Träger ausgelagerter Funktionen sind. Die Uniformität und Einsamkeit, die sie bestimmen, haben sie als räumlich oder sozial desintegrierte Zonen. Nun gibt es ja auch andere Funktionseinheiten, wie zum Beispiel Flughäfen, die durch dieselben Eigenschaften charakterisiert sind, die dich aber anscheinend nicht interessieren.

    Da habe ich schon fotografiert, aber die Bilder noch nie verwendet. Das könnte man auch als solche Orte sehen. Ich habe auch schon an militärische Institutionen gedacht. Das sind auch Strukturen, die ausgelagert sind, oder auch Internate, Schulen oder Klöster. Da gibt es ein großes Spektrum an möglichen ausgelagerten Orten.

    Was interessiert dich an den Gefängnissen?

    Die Gefängnisse sind Orte, die aus unserem Wahrnehmungsspektrum ausgeschlossen werden, weil wir sie als Orte nicht wollen. Sie werden verdrängt und das hat mich interessiert. Was bedeuten diese Orte, wie leben die Menschen an diesen Orten und in diesen Räumen, die sozialpolitisch für die jeweilige Gesellschaft scheinbar unattraktiv sind, wenn man dort Architektur und Resozialisierungsmöglichkeiten sich vor Augen führt.

    Die Orte, die du auswählst, sind weitgehend deckungsgleich mit dem, was Marc Augé als Nicht-Ort bezeichnet. Aber ich weiß, dass du den Begriff nicht für besonders brauchbar hältst.

    Die verschiedenen Räume haben alle etwas miteinander zu tun. Es sind zweckbestimmte Räume, die Handlungen strukturieren und organisieren, alltägliche wie bei den Autobahnen oder auch touristische wie in den alpinen Räumen, wo wir es mit einer Art Leitsystem des Vergnügens zu tun haben. Uniformierung und Wiederholung kennzeichnen diese Raumstrukturen in den Handlungsabläufen und meistens auch in der Architektur. Was ist aber ein Nicht-Ort? Ich glaube, das ist eine soziale Definition, welche Wertigkeit ich als Mensch diesem Ort gebe. Für jemanden kann das Autobahndreieck mehr oder gleichviel wie für mich ein anderer Ort bedeuten. Das definiert sich einfach über den sozialen Status, was ein Ort ist oder nicht ist. Ich kann nicht sagen, das sei ein Nicht-Ort, weil ich von meinem sozialen Status das als einen Nicht-Ort sehe, weil ich nicht dort leben muss. Ein anderer Mensch sieht das wahrscheinlich anders, weil er mit diesem Ort leben kann, mit ihm umgehen muss. An den Autobahnen zum Beispiel gab es immer Orte, wo Leute lebten. Für mich haben diese Orte schon eine große Spannung. Von meiner Erfahrung mit Verkehrsstrukturen kann ich auch sagen, dass der „Nichtort“ eher ein von der westlichen Kultur geprägter Begriff ist und im asiatischen Raum kaum von Bedeutung ist und nicht so gesehen wird. Das mag wohl auch damit zusammenhängen, dass z.B. Autobahnen und Straßen dort generell integrierender Bestandteil einer Stadt sind und nicht ausgegrenzte Bereiche. Das ist so eine enorme Konzentration an Energie an einem Ort. Diese Orte haben auch eine Ausstrahlung, die für mich faszinierend ist.

    Du stellst aber doch in deinen Arbeiten genau die Qualitäten heraus, die kennzeichnend sind für solche Nicht-Orte.

    Du meinst, so wie sie sichtbar werden, würdest du sie als Nicht-Orte definieren?

    Genau. Weil du eben nicht die Häuser unter dem Autobahnkreuz zeigst oder zumindest nicht als eigentliches Thema.

    Ja, das stimmt nur zum Teil, denn meistens liegen die Autobahnkreuze in Europa nicht in der Nähe von Wohnzonen. Im asiatischen Raum sind sie wie schon vorher angedeutet immer Teil der Stadt und werden voll in das räumliche Konzept der Stadt als bewohnbare Zonen integriert, was auf unterschiedliche Weise in den Arbeiten auch sichtbar wird.

    Wie würdest du das Verhältnis zwischen Fotografie und Architektur bestimmen?

    Mit Bildraum ist das Bild als zweidimensionale Fläche gemeint. Die Aufnahme von realen Räumen wird auf die Papierfläche übertragen. In diesen Arbeiten geht es mir um das Sichtbarmachen über die medienimmanenten Möglichkeiten von Raum und in weiterem Sinne von Raumatmosphären im Bewusstsein dessen, dass Fotografie die Aura des Originals nicht ersetzen kann, aber vielleicht etwas aufscheinen lässt, das dem Raum gerecht wird, ihn enthüllen kann. Raum erleben ist letztlich ein mit allen Sinnen geschehender Vorgang und durch ein Medium nicht ersetzbar.

    Du hast immer wieder die Relevanz des Raumes für deine künstlerische Arbeit betont, und tatsächlich ist die Ausrichtung der Kamera oft an räumlichen Vorgaben orientiert. Durch die Aufhellung der Abzüge wird aber die Räumlichkeit aus den Bildern wieder weitgehend herausgenommen, weil die weißen Wand- bzw. Schneeflächen in ihrer räumlichen Wirkung neutralisiert werden. Im Ergebnis erscheinen die farbigen Dinge bzw. Menschen davor freigestellt und dadurch dem Raumgefüge enthoben. Am Ende setzen sich dann doch die Dinge als diskrete Einheiten gegen das Raumkontinuum durch. Ich vermute, deine Raumauffassung geht über die strenge, geometrische Definition des Begriffs hinaus. Was genau bedeutet für dich der Raum und wie würdest du das Verhältnis zwischen dem Raum und den Dingen in deinem Werk bestimmen?

    Ich denke, Raum gibt es nur, wenn er belebt ist, wenn man in ihm ist, ihn lebt. Für mich ist ganz wichtig, dass in der Landschaft irgendwo ein Mensch ist. Beim Innenraum hingegen muss das nicht unbedingt sein, denn der Innenraum definiert sich darüber, dass er durch den Menschen entstanden und der Mensch schon deswegen immer präsent ist. Deswegen gibt es im Innenraum auch weniger Menschen.

    Aber wenn man den Raum rein geometrisch auffasst, stellt man schon fest, dass du ihn durch das Freistellen der Dinge in sehr hohem Maße aus den Bildern herausnimmst.

    Das Freistellen hat den Vorteil, dass Dinge sich sichtbar machen, die man durch die perspektivische Raumdehnung vorher wahrscheinlich nicht so präsent hatte. Indem ich dann die Dichte wegnehme, wird das sehr flächig, und es schaut teilweise aus wie ein Baukastensystem. Beim Menschen in der Landschaft hat das mehr mit Marionetten und Orientierungslosigkeit zu tun. Dieses Ausgesetzt-Sein, wo man nicht mehr genau weiß, warum sie da sind.

    Dir geht es bei der Arbeit mit Bildsequenzen auch darum, den grundsätzlich fragmentarischen Charakter von Fotografien offenzulegen. Bei deinem spezifischen Verfahren, die Dinge in ihrem mehr oder weniger zufälligen Zusammentreffen im Bild freizustellen, erscheint mir die fragmentarische Qualität evident, weil sie nur über die räumliche Nähe in Beziehung treten und man sich andere Konstellationen mit mehr oder weniger Elementen vorstellen könnte. Ich frage mich aber, ob es nicht andere fotografische Positionen gibt, bei denen das Fragmentarische keine wesentliche Rolle spielt. Wie schätzt du das beispielsweise bei den Arbeiten von Bernd und Hilla Becher ein?

    Grundsätzlich würde ich behaupten, dass das Medium immer mehr oder weniger fragmentarisch ist. Ein Foto ist immer ein Ausschnitt, ein Teil aus einem komplexeren Gefüge. Eine fotografische Darstellung von Architektur bleibt, so sehr man sich auch um Objektivität bemühen mag, immer nur eine mögliche Erscheinung davon, als Bild auf einer zweidimensionalen Fläche.

    Vielleicht besteht die Differenz darin, dass es dir um Sichtbarmachung geht und den Bechers um die Isolierung von Funktionseinheiten.

    Sie versuchen, einen objektiven Blick auf das Abgebildete herzustellen, den nach ihrer Vorstellung geeigneten Blick, was immer auch eine sehr persönliche Geschichte ist. Was ist richtig?

    Das genau würde mich interessieren. Du hast gesagt, dass du dich, als du dein Verfahren entwickelt hast, gegen den dokumentarischen Stil der Bechers und deren Anspruch einer objektiven Wiedergabe von Gegenständen in der Fotografie gewendet hast.* Hältst du den Anspruch, in der Fotografie etwas objektiv wiederzugeben, für grundsätzlich uneinlösbar?

    Es gibt im fotografischen Prozess so viele Konstanten, die es eigentlich ad absurdum führen, daran zu denken, dass es eine objektive Umsetzung gibt. Es gibt so viele Faktoren, die für die Transformation zuständig sind. Warum sollte z.B. ein fotorealistischer Maler weniger objektiv sein als ein fotografischer Dokumentarist? Ich habe den Eindruck, wir glauben, dadurch, dass wir ein technisches Medium haben, muss alles sehr genau und präzise und objektiv sein. Daran glaube ich nicht. Das technische Medium ist ursprünglich von Menschenhand gemacht. Und der Maler macht mit der Hand seine fotorealistische Malerei. Wo ist da der große Unterschied?

    Aber wenn ich den Anspruch der Bechers richtig verstehe, geht es ihnen darum, eine Funktionseinheit so darzustellen, dass man möglichst viel von ihr erfassen kann. Sie gehen davon aus, dass es typische Ansichten eines Gegenstandes bzw. einer Architektur gibt. Und das würde mich interessieren, ob du zugestehen kannst, dass es möglich ist, eine typische Ansicht einer Architektur zu fotografieren oder ob du das für grundsätzlich unmöglich hältst.

    Was ist eine typische Ansicht einer Architektur? Man kann das über das vergleichende Serielle sicherlich behaupten aber generell glaube ich, dass es keine typische Ansicht von Architektur gibt, weil sie von einem transformierenden Medium erstellt wird.

    Bernd Becher hat ja auch als Zeichner angefangen, und genau das gezeichnet, was er dann später mit seiner Frau zusammen im Medium der Fotografie dokumentiert hat. Das Zeichnen war ihm irgendwann zu langwierig. Ich würde durchaus auch Gemeinsamkeiten in euren künstlerischen Strategien sehen, so verschieden sie sind, zum Beispiel darin, dass es bei dir und bei den Bechers nicht mehr um Komposition und den entscheidenden Augenblick geht. Würdest du diese Einschätzung teilen?

    Ja, bei den seriellen Arbeiten sicher. Komposition ordnet sich der Serie unter, die dort entsteht. Das würde gar nicht funktionieren, wenn ich da bestimmende kompositorische Verfahren mit ins Spiel brächte. Das wäre eigentlich ein Widerspruch.

    Du hast dich in dem erwähnten Interview im Verweis auf die neurowissenschaftliche Forschung gegen ein Konzept des Dokumentarischen ausgesprochen und in diesem Zusammenhang Olaf Breidbach zitiert, der die Wahrnehmung als Handlung eines Subjekts beschreibt und sich damit gegen ein passives Abbildmodell der Wahrnehmung wendet. Entsprechend hast du betont, dass der Raum im Wahrnehmungsprozess und im fotografischen Prozess gleichermaßen transformiert wird.** Ich frage mich aber, ob sich beide Transformationsprozesse gleichsetzen lassen.

    Das ist sicher nicht gleich, weil der Transformationsprozess in der Wahrnehmung mit dem zu tun hat, was unsere Vorgeschichte ausmacht, unser Leben, alles was wir erlebt haben. Und das ist natürlich eine viel größere Transformation.

    Nach dem Modell von Breidbach gibt es ein sprachlich und kulturell konstituiertes, internes Ordnungsmuster, dem die Sinnesdaten in der Wahrnehmung angepasst werden. Insofern gibt es eine aktive Selektion. Der fotografischen Transformation liegt aber keine selektierende Struktur zugrunde, weil die Transformation in der Wiedergabe sich nur aus den Beschränkungen des Apparates und der Chemie ergibt. Mir scheint die Betonung dieser Differenz wichtig zu sein im Zusammenhang mit der Frage nach dem Performativen in der Fotografie. Das neurowissenschaftliche Modell einer realitätsgenerierenden Wahrnehmungshandlung könnte man wohl als performativ beschreiben. Wenn sich diese Form der Transformation mit der fotografischen Transformation gleichsetzen ließe, dann wäre das fotografische Medium per se performativ. Ich denke aber, dass gerade der dokumentarische Ansatz der Bechers sich die fehlende Differenzierung im Aufzeichnungsprozess des fotografischen Mediums zunutze macht, der zu einer gleichmäßigen Durchzeichnung der Gebäudedetails führt. In dem Sinne könnte man deren Bilder durchaus als Abbilder auffassen.

    Aber ist diese Transformation dann doch nicht auch eine Selektion durch die eingesetzten fotografischen Mittel, Brennweite und der Film, die ja unterschiedliche Bilder ergeben wüden? Sie gehen natürlich von einem statischen Objekt aus, das sich nicht bewegt. Das hat auch etwas zu tun mit dieser Vorstellung. Abbildhaft ist das schon, aber dann ist auch das Bild eines fotorealistischen Malers abbildhaft.

    Genau, denn der Fotorealist hat ein auf die Leinwand projiziertes Foto und meistens noch ein darübergelegtes Raster. Damit ähnelt der mechanische Übertragungsprozess dem fotografischen Aufzeichnungsprozess. Deshalb meine ich, dass es nicht notwendig ist, hier eine Differenz zu behaupten. Aber es gibt sehr wohl eine Differenz etwa zum Porträtzeichner, der gezielt die ihm charakteristisch erscheinenden Aspekte eines Gesichts auswählt und alles Unnötige weglässt.

    Ja.

    In der neueren ästhetischen Theorie gibt es den Ansatz, zwischen Performativität und Expressivität zu unterscheiden. Expressivität würde sich danach als Ausdruck eines Künstlersubjekts manifestieren, während Performativität sich eher innerhalb einer vom Künstler definierten Versuchsanordnung ereignet. Vielleicht könnte man für die Fotografie die Komposition des Bildes und die Wahl des richtigen Zeitpunktes als Ausdruck einer Gestaltungsvorstellung des Künstlers auffassen. Im Gegensatz dazu scheinen mir deine Werke eher über die Rahmenbedingungen definiert zu sein, ohne im beschriebenen Sinne expressiv zu sein. Damit käme dann doch eine Dimension des Performativen hinein, allerdings eher auf der Seite des Rezipienten, dem keine definitive Sicht vorgegeben wird, sondern der sich selber die Bezüge in der Mehransichtigkeit überhaupt erst schaffen muss.

    Es geht mir darum einen Bildraum zu schaffen, in dem das Publikum – der Betrachter – seinen Standpunkt selbst definieren kann. Mehrdeutigkeit in Bezug auf den Inhalt, Mehrdeutigkeit in Bezug auf die Form und Mehrdeutigkeit in Bezug auf die Möglichkeit einer Auseinendersetzung. Es gibt verschiedene Zugänge. Meine Arbeit ist nicht offensichtlich auf den ersten Blick, auch wenn es so scheint. Es gibt eine Ebene, die vielleicht täuschen kann, und dann gibt es noch andere Ebenen. Ich glaube, man muss schon die Wahrnehmung aktivieren. Vordergründig kann man das ja manchmal sehr ästhetisch sehen. Der schöne Schein trügt, weil es dann andere Ebenen gibt. Es gibt ja nicht umsonst diese Brüche zwischen den Bildern, Wiederholungen, Überlappungen, verschiedene Perspektiven, zeitliche Verschiebungen usw. Die Arbeit oszilliert zwischen dem schönen Schein einer sogenannten Realität und der Bildwirklichkeit, sie zielt hin auf eine Offenlegung der Bild-Medien sowie auf die Forderung und Präzisierung der Wahrnehmung.

    Und dieser Anreiz, zu vergleichen, wird ja überhaupt erst dadurch hergestellt, dass es überlappende Bereiche gibt und den durch die Rahmen markierten Cut zwischen den Bildern, der auch ein zeitlicher Cut ist.

    Genau.

    Abschließend noch eine Frage zur Fotografie als Artefakt. Mich hat gewundert, dass du im Katalog „TAV: Viadotto Modena“, der den Bau einer Hochgeschwindigkeitseisenbahntrasse zeigt, vereinzelt Fotografien absichtlich spiegelverkehrt gedruckt hast. Wie würdest du dein Verhältnis zu dem materiellen Medium Fotografie beschreiben?

    Für mich ist das ein Medium, mit dem ich alles machen kann. Ein Maler macht ja auch alles mit seinen Farben und nutzt seine Möglichkeiten. Warum sollte ich als Fotograf nicht auch das Medium einfach verwenden. Ich möchte da alle Möglichkeiten nutzen, die es zur Zeit im analogen System gibt. In der klassischen Fotografie gibt es so einen Ethos, was man machen kann und was nicht. Aber mir geht es nicht um das Medium. Das Medium ordnet sich dem unter, was ich damit sagen will. Es ist nur das Mittel zum Zweck.

     

    Veröffentlicht in: Fotografie im Diskurs performativer Kulturen, Hrsg. Martin Roman Deppner, Kehrer Verlag, Heidelberg 2009