• Küng, Moritz — Gefühlte Architektur 2006

    Parallelen in den Arbeiten von Walter Niedermayr und Sanaa

     

    “Wir wollen, was jedermann will, und alles mit eigenen Augen sehen, auch wenn es andere Augen besser sehen, perfekter beschreiben oder fotografieren können. Wir begnügen uns nicht mit einem Poster vom Eiffelturm, wir wollen ihn selbst sehen, währenddessen er zugegebenermassen auf diesem Poster tatsächlich viel besser aussieht” 1 Martin Bril in einem Beitrag über holländische Rekreationsparkanlagen, fotografiert von Otto Snoek, Vrij Nederland, no. 28/29, Amsterdam, 2006, S. 89..

     

    Im Zitat von Martin Bril kommt ein Verlangen nach Realität zum Ausdruck, das die Wahrhaftigkeit oder Authenzität unmittelbar paraphrasiert und exemplarisch auf das Phänomen des fotografischen Abbildes als <Täuschung> hinweist. Das Poster scheint dem Wunsch nach Realität näher zu kommen als das Original. Heute wird Architektur wie nie zuvor massiv und nachdrücklich in Zeitschriften, Katalogen oder Ausstellungen reproduziert und zu einem Life Style Phenomenon erhoben. Und noch nie war in unserer bildüberfrachteten Zeit die Verführung grösser, zu glauben, mam habe etwas wahrgenommen, dass man mit eigenen Augen nie gesehen hat. Hier wird deutlich, dass Architektur nicht nur auf einer realen Ebene, als gebaute, mehrdimensionale Wirklichkeit, existiert, sondern auch auf einer medialen Ebene, die je länger je mehr unkritisch geworden ist. Auf der realen Ebene wird Architektur als gebaute Masse, Körper und Raumgefüge wahrgenommen, dessen Komplexität sich erst über unzählige haptische, optische und physische Erlebnisse erschliesst. Aus der Summe von subjektiven Erfahrungen im Um- und Durchschreiten, im Hin- oder wieder Wegschauen kommt ein Bild zu Stande. Die Wahrnehmung eines Gebäudes, das an sich statisch und regungslos ist, beruht also auf einer Bewegung, die fundamental für die Erfassung von Architektur ist. So entsteht eine subjektive Wahrheit, die sich von der tatsächlichen Wirklichkeit unterscheidet. Letztendlich kommt das Erlebnis von Architektur nicht nur auf Grund einer Absicht, eines Kontextes und eines Programms zu Stande, sondern auch auf Grund der Wahrnehmung vor Ort.

    Diese Wahrnehmung findet ihre Fortsetzung in der medialen Repräsentation von Architektur. Die konkrete Wirklichkeit wird mit dem geschriebenen Wort oder dem gemachten Bild in eine andere Wirklichkeit überführt. Architektur wird also übersetzt. Dieser Vorgang setzt einen Standpunkt, eine bestimmte Auffassung, Sensibilität oder Deutung voraus. Information wird gefiltert und der mediale Eindruck zweidimmensional. Architektur wirkt hier nicht mehr als vitale Quelle von sich konstant generierenden Bildern, sondern ist erstarrt. Sie ist nur noch Abbild, oder – wie der Phänomenologe Franz Xaver Baier einmal formulierte «nicht wirklichkeitserzeugend» 2Franz Xaver Baier, Zivile Operationen, in Walter Niedermayr, Zivile Operrationen, Kunsthalle Wien und Verlag Hatje-Cantz, Osterfildern-Ruit, 2003, S. 144.. Diese Reproduktion – Plan, Modell, Animation oder Fotografie – ist immer fremdbestimmt und manipuliert, oft idealisiert und banalisiert, da bestimmte Aspekte der Wirklichkeit hervorgehoben oder ausgeblendet werden. Die konventionelle Architekturfotografie, die nach dem Einzigartigen, Perfekten und Objektiven strebt, präntendiert einerseits, so sachlich wie möglich zu sein, indem sie auf formale Aspekte blind starrt, und strebt andererseits nach einer vermeintlichen Attraktivität, welche ihren Höhepunkt oft in den heute so populären Nachtaufnahmen findet.

    Doch drängen sowohl Architektur wie auch Photographie immer nach Realität: Die vorerst abstrakte und hypothetische Vorstellung von Raum will gebaut, die Realisation in einem bestimmten Augenblick festgehalten sein. Aber können fotografische Bilder überhaupt die mehrdimensionale Wirklichkeit von Architektur vermitteln? Kann die Fotografie selbst mehrdimensional sein? Können die Absichten der Architektur im Bild des Fotografen eine Entsprechung finden? «Allerdings. Und doch fängt die Kunst der Fotografie genau dort an, wo es kein Etwas gibt, das sich abbilden liesse» 3Gernot Böhme, Theorie des Bildes, München, 1999, S. 108. Der italienische Fotograf Walter Niedermayr beherrscht diese Kunst, was seine Bilder über die Arbeiten der japanischen Architekten Kazuyo Sejima & Ruye Nishizawa (SANAA) eindrücklich beweisen.

    Walter Niedermayr wurde Mitte der neunziger Jahre vor allem durch seine grossformatigen alpinen Landschaften der Dolomiten bekannt. In den mit kalkukierter Distanz, in hellem, etwas <opakem> Licht erscheinenden Bergwelten schwingt thematisch immer auch die <Eroberung> der Natur durch den Menschen mit; es sind Bilder fern jeglicher Romantik. Die Arbeiten sind als Dyptichen oder Bildsequenzen konzipiert, was den üblichen Wahrheitsanspruch des Einzelbildes untergräbt. Gerade dieses konzeptionelle Stilmittel ermöglicht eine Bildvernetzung, bei der das Auge immer wieder nach neuen Anhaltspunkten und Verbindungen sucht. «Im Grunde ist jede Fotographie ein Fragment aus einem komplexeren Gefüge» 4Walter Nierdermayr im Gespräch mit Marion Piffer Damiani, in Walter Niedermayr, Zivile Operrationen, Kunsthalle Wien und Verlag Hatje-Cantz, Osterfildern-Ruit, 2003, S. 156. – mit dem Resultat, dass das Ganze an sich nie erfasst werden kann. Nebst den ruralen Landschaften entstanden auch Reihen über urbane Räume, Autobanhkreuzungen und Rohbauten, Innenräume von Krankenhäusern, Gefängnissen und über Brückenbauten 5Vgl. die Monografien über Walter Niedermayr: Die Bleichen Berge / I monti pallidi, AR/GE Kunst Galerie (Hg.),Bozen / Bolzano 1993; Reservate des Augenblicks / Momentary Resorts. Osterfildern-Ruit 1998; Raumfolgen 1991-2001. Carl Aigner / Andrea Domesle (Hg.), Eikon Sonderdruck Heft 7, Wien 2001; TAV Viadotto Modena. Linea veloce Bologna-Milano. William Guerrieri / Tiziana Serena (Hg.), Rubiera 2006. Doch ist Walter Niedermayr kein Architekturfotograf. Weder arbeitet er im Auftrag von Architekten noch sind seine Bilder objektivierend. Stattdessen schaffen sie aus einer tastbaren Realität eine neue, ebenfalls taktile Realität. Walter Niedermayr verfolgt einen künstlerischen, abstrahierenden Anspruch, indem er die Architektur mittels einer eigenen, zurückhaltenden Annäherungsweise verinnerlicht. Wie ein Geologe interessiert er sich für die Tektonik des Objektes und untersucht Schichten und Gefüge.

    Anlässlich seiner ersten Einzelausstellung in Japan in der renommierten Koyanagi Gallery in Tokyo (2000), begegnete er zum ersten Mal Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa. In der Folge entstanden aus einer gegenseitigen, tiefen Wertschätzung und auf Initiative des Fotografen in den letzten vier Jahren Bilder von zehn SANAA-Gebäuden. Für die gemeinsame Ausstellung im Jahr 2007 wird er den Bestand um Aufnahmen von sechs weiteren Projekten erweitern. 6Ausstellung Kazuyo Sejima & Ryue Nishizawa (SANAA) / Walter Niedermayr, deSingel, Internationales Kunstzentrum, Antwerpen, Februar 2007

    Kommen die Bauten von SANAA zur Sprache, werden diese oft mit «minimal, abstrakt oder skulptural» umschrieben; bezeichnederweise mit einem Vokabular, das eher aus der bildenden Kunst stammt. Obwohl die Architektur von SANAA äusserst klar und ökonomisch konzipiert ist, ist ihr Erscheinung, ihr Wesen paradoxerweise ephemer und fragil. Es ist, als ob die Architekten die kollektiven Vorstellungen der Moderne mit einer poetischen, monochromatischen, ja geradezu femininen Sensibilität kontern und sie um eine Dimension erweitern. Gleichzeitig sind ihre Entwürfe so entwaffnend reduktiv, dass sie verspielt, aber eben auch so human wirken. Man denke hier nur an den Entwurf für die Erweiterung des Institute of Modern Art in Valecia, wo ein monumentaler, perforieter Kubus über das bestehende Gebäudes gestülpt wurde, an den agglomerativen Raumplan des 21st Museum of Contemporary Art, Kanazawa, oder an die mit verschieden grossen, unregelmässig platzierten Fenstern gestalteten Fassaden ihres soeben eingeweihten, ersten Gebäudes in Europa, der Zollverein School of Management and Design in Essen. Immerwieder wissen SANAA das Monolithische mit dem Fragmentarischen, das Hermetische mit dem Durchlässigen, das Amorphe mit dem Soliden zu durchmischen und neue Perspektiven zu schaffen. Ihre Raumkonzepte sind aber nie eindeutig. Innere Strukturen sind von aussen nicht nachvollziehbar (Zollverein School, Dior Omotesando-Building, House in a Plum Grove), Zirkulationen durch Gebäude nicht bestimmend und zwingend (Kanazawa Art Museum, Glass Pavillion), gegensätzliche Funktionen und Programme in einer offenen Nähe zueinander. «We have always been attracted by this ambivalence between something and nothing, by this floating of materials and space.»7SANAA / Kazuyo Sejima & Ryue Nishizawa: Zollverein School of Management and Design. München 2006, S. 54

    Gerade die unterschiedlichen Koexistenzen wissen die Bilder von Walter Niedermayr so genau zu erfassen, dass sich die räumlichen Tiefen der Architektur als mehrschichtige Ebenen auffächern. Sowohl die Arbeiten der Architekten wie auch jene des Künstlers werden durch Transformationen gegebener Kontexte bestimmt. Beide bedienen sich auf den ersten Blick zurückhaltender, formaler Annäherungsweisen, die wohl eine gewisse Tradition nicht verleugnen, aber im Prozess der jeweiligen Arbeit zu neuen Beziehungen und Atmosphären zwischen Objekt und Subjekt führen. Beide meiden das Sensationelle und Imponierende. SANAA und Walter Niedermayr lassen beide Architektur erahnen. Dadurch sensibilisieren sie den Betrachter auf unaufdringliche Weise auf die Essenz von Raum – also das Relative des Sichtbaren.

    Für die vorliegende Publikation und aus Anlass der Einweihung von SANAAs Bürogebäude ist eine Reihe von Bildern entstanden, in denen sich die Architektur noch unfertig zeigt und das Fühlbare in den Bildern Walter Niedermayrs sich nur als ein Vorgefühl manifestiert. Seit Ende der neunziger Jahre fotografierte er immer wieder Baustellen oder Rohbauten – unter anderem auch von SANAA. Sein Interesse für das Unfertige aber Elementare, wo sich die Handschrift oder Aura des Architekten noch nicht eindeutig erkennen lässt, ist ein weiteres Indiz dafür, dass sich der Künstler der klassischen Architekturphotographie verweigert. Und ähnlich wie für SANAA ist auch für Walter Niedermayr Architektur ein Aggregatzustand zwischen dem Festen und dem Flüchtigen, dem Realen und dem Gefühlten.

     

    Veröffentlicht in der Monographie: Novartis Campus-Fabrikstrasse, 4